: Eine moderne Frau
Am Tag ihrer Hochzeit sah sie erstmals ihren Mann – jetzt leben sie zusammen in Berlin. Sie sagt, er sei nett
Geflohen ist die Familie vor dem Krieg, der Anfang der Neunzigerjahre den Balkan verwüstete. Den Kosovo-Albanern gelang die Flucht nach Berlin, Vater und Mutter, eine Tochter, ein jüngerer, ein älterer Bruder. Die drei Kinder gingen zur Schule – nur der Vater, ein gelernter Bäcker, und die Mutter mussten zu Hause abhängen: Arbeit war im Asylverfahren nicht erlaubt, nur jahrelanges Fernsehglotzen. Stets drohte der Familie die Abschiebung. Dann, endlich, im vergangenen Jahr nach Jahren erzwungenen Nichtstuns, erhielt die Familie eine unbefristete Duldung. Und im Sommer konnten sie ganz legal aus der Stadt raus, zurück ins Heimatdorf: zur Hochzeit der Tochter.
Welch eine Freude, das große Fest war so etwas wie die Rückkehr ins Leben. Es gibt nur einen kleinen Fehler in dieser recht schönen Geschichte: Die Tochter, 18 Jahre alt, hübsch und am Ende ihrer Ausbildung zur Friseurin, hat ihren Ehemann am Tag der Vermählung im kosovarischen Heimatdorf zum ersten Mal gesehen. Sie ist nicht auf den Kopf gefallen, hat jahrelang wegen besserer Deutschkenntnisse alle Behördengänge der Familie erledigt – und wer sie auf der Straße sieht, mag sie für eine selbstbewusste junge Berlinerin aus einer Migrantenfamilie halten. Kein keusches Kopftuch oder weite Mäntel trägt sie, im Gegenteil, ihre Kleidung betont die Figur, die Haare sind offen. Ist die Tochter zwangsverheiratet worden, weil es Tradition und Religion so verlangten?
In den Monaten vor der Hochzeit klang sie nie bitter – eher leicht belustigt, dass sie jetzt einen Mann heiraten würde, den sie nicht kannte. Sie wusste, dass er wenige Jahre älter ist als sie, ein junger Mann aus dem gleichen Dorf im Kosovo, der gleichwohl wie sie in Berlin lebt. Ihren jüngeren Bruder, einen cleveren Burschen, völlig assimiliert, sogar ein wenig berlinernd, wollte der Vater auch schon verloben. Beim ersten, halb legalen Besuch in Kosovo, fragte ein früherer Nachbar den Vater, ob der Sohn sich nicht mal seine Tochter anschauen wolle. Beide Kinder waren damals etwa zwölf Jahre alt.
Doch der Sohn weigerte sich, das Mädchen überhaupt anzuschauen. Denn er wusste: Daraus hätten die Väter schnell eine Verlobung machen können. Die aber ist nicht ohne Gesichtsverlust für beide Familien zu lösen. Und das darf auf keinen Fall sein. Ähnliches galt auch für die verheiratete Tochter. Eine Verlobung löst man nicht, sagte sie, vor der Hochzeit. So heiratete sie den unbekannten Mann.
Der Imam war, gemäß der Tradition, bei der Hochzeit nur zugegen, das Paar traute er nicht – bindend ist die Ehe gleichwohl. Der muslimische Glaube der Familie spielt eine Rolle. Wichtiger aber ist die Tradition, der man bis ins Detail gerecht werden wollte. So stand die Braut, der Sitte folgend, während des ganzen Hochzeitstags schweigend, den Blick gesenkt und ernst, in der Festgesellschaft. Nur am Ende des Tages durfte sie ein paar Worte mit Gästen wechseln.
Seit ein paar Wochen lebt sie jetzt mit ihrem Mann, einem ganz gut aussehenden Bauarbeiter, in einer kleinen Berliner Wohnung. Eltern und Tochter, auch das verlangt die Tradition, dürfen sich erst einmal nicht treffen. Die junge Ehefrau sagt, sie sei zufrieden. Ihr Mann sei nett, er wolle auch, dass sie weiter arbeiten gehe. Es gab ein wenig Streit zwischen ihrem jüngeren Bruder und ihrem Mann. Ihr Bruder warf ihm vor, sie nicht gut zu behandeln. Sie aber klagt nicht. Könnte sein Zweifel bloß eine überzogene Beschützerattitüde sein?
Ihr älterer Bruder ist arbeitslos. Auch er sollte in einer arrangierten Ehe landen, doch die Verlobung ist geplatzt – warum, darüber redet man in der Familie nur ungern. Sie sei glücklich, sagte sie am Tag der Hochzeit, heute klingt das zurückhaltender. Die Tochter will bald Kinder bekommen, nachdem die Ausbildung zu Ende und sie sicher im Job ist. Die junge Berlinerin wirkt wie eine moderne Frau. Sie hat der Tradition gehorcht. Und ihren Eltern. PHILIPP GESSLER