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Archiv-Artikel

Tod eines Meinungsfreien

Der Mord an Theo van Gogh hat eine lautstarke politische Diskussion entfacht. Der Blick auf sein Werk kommt so zu kurz. Dabei war van Gogh zuallererst Filmemacher, ein vom Kino Besessener. Die Unruhe seiner Ideen nahm von seinen Filmen Besitz

VON DANA LINSSEN

An dem Abend, als ich vom Mord an Theo van Gogh erfuhr, dauerte es lange, bis ich mir klar machte, was das bedeutete. Erschossen, erstochen, hieß es in den ersten Berichten. Später stellte sich heraus, dass beides zutraf. Grausam, barbarisch, rituell.

Tot – bedeutete das auch wirklich tot und nicht todstill oder mundtot? Das wäre für van Gogh wahrscheinlich noch schlimmer gewesen. Er war tot, ermordet, liquidiert, und zwar nicht als zufälliges Opfer – als ob das etwas beschönigen würde –, sondern zielbewusst. In den Niederlanden ist ein Filmemacher ermordet worden, und noch bevor ich etwas über den Täter oder dessen Motiv erfuhr, war eines sofort deutlich: Er wurde ermordet, weil er war, wie er war, als öffentliche Person. Weil er sagte, was er sagte, als Meinungsmacher. Weil er schrieb, was er schrieb, als Kolumnist. Und weil er tat, was er tat, als Filmemacher. Und in allem war er kompromisslos im Kampf gegen seinen Feind schlechthin: die Heuchelei.

Es war vor allem der Film „Submission Part 1“, ein zehnminütiges Traktat, das er in diesem Sommer mit der rechtsliberalen Politikerin Ayaan Hirsi Ali für den öffentlichen Fernsehsender VPRO hergestellt hat, den der Tatverdächtige und mit ihm anscheinend eine komplette terroristische Zelle in den falschen Hals bekommen hat. Ein in islamischer Rhetorik verfasstes Pamphlet, das im Leichnam des Regisseurs steckte, machte klar, dass über den Islam nicht gespottet werden darf. Der Muslim-Fundamentalismus lässt weder Bildsprache noch Ironie zu, und besonders Letztere war van Goghs liebste Waffe.

Theo van Gogh hatte viele Freunde, ebenso viele Feinde und genauso viele Gesichter, wie er für seine vielen Berufe brauchte. Er genoss das Spiel als Doktor Jekyll und Mister Hyde. Er liebte es zu polemisieren, Situationen auf die Spitze zu treiben, zu schockieren – er nannte Muslime ständig Ziegenficker. Alles Eigenschaften, die ihm als Filmemacher mehr Nuancen entlockten als seiner Arbeit als Kolumnist. Doch gerade in dieser Eigenschaft stieß er in den letzten Jahren auf den größten Widerhall, in der Gratis-Tageszeitung Metro und auf seiner Website www.degezonderoker.nl [der gesunde Raucher, A. d. Ü.]. Er führte einen Kleinkrieg gegen religiösen Fundamentalismus, besonders gegen die extremen Auswüchse des Islam, die er lange vor dem 11. September 2001 in den Niederlanden auftauchen sah, auch in der Stadt Amsterdam, die er tagsüber auf dem Fahrrad und nachts im Taxi durchstreifte. Am rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn bewunderte er die Schamlosigkeit, mit der dieser das Scheitern der sozialdemokratischen Kulturdominanz anprangerte.

Dass Fortuyn am 6. Mai 2002 ermordet wurde, verhärtete seine Haltung. Van Gogh polemisierte und politisierte. Neben der muslimischen Bedrohung sah er auch ein Linkskomplott, das darauf aus war, die demokratischen Werte der Niederlande zugrunde zu richten, vor allem den einen: die Meinungsfreiheit. Das führte manchmal zu wunderlichen Situationen, so etwa, als er für den Rotterdamer Imam Khalil El Moumni eintrat. Und obwohl er das multikulturelle Zusammenleben verabscheute, predigt seine Fernsehserie „Najib & Julia“ (2002) beinahe die interkulturelle Liebe, indem sie eine moderne Romeo-und-Julia-Geschichte in einem kleinbürgerlichen Stadtteil von Den Haag erzählt. Für „Cool“ (2004) filmte er mit jungen Straftätern aus dem Migrantenmilieu. Es waren billige, dank DV-Kamera schnell gedrehte Produktionen, in denen er nah an seine Hauptfiguren herankam und sich für die zugrunde liegenden dramatischen Verhältnissen interessierte zwischen Tätern und Opfern, Männern und Frauen, Jägern und Beute.

Van Gogh, ein Ururneffe des niederländischen Malers Vincent van Gogh, ist in den letzten Jahren teils notgedrungen vom Pfad der Filmästhetik abgekommen. Die zähen Vorschriften bei der Spielfilmförderung ärgerten ihn maßlos, weshalb er seine Filme lieber selbst aus den Erlösen seiner Schreib- und Fernseharbeit finanzierte. Seit seinem stilvollen, in Schwarz-Weiß gedrehten Debüt „Lüger“ (1982) über einen Gangster in Den Haag galt er in der niederländischen Filmwelt als Besessener. Den „holländischen Fassbinder“ nannte man ihn, und diese Verbindung mit dem destruktiven Genie hat ihm sichtlich gefallen.

Wie der Erstling sorgten auch seine nächsten Arbeiten für Kontroversen, die Verfilmung von Heere Heersmas melancholischer Erzählung in „Een dagje naar het strand“ („Ausflug zum Strand“, 1984) über einen älteren Alkoholiker und „Charly“ (1986) über zwei allein erziehende Sozialhilfeempfängerinnen, die Männer nach Hause mitnehmen, um sie zu foltern und zu vergiften. Die Filmkritik spaltete sich in diejenigen, die ein Potenzial in dem ungezähmten Talent sahen, und in andere, die dadurch abgeschreckt wurden.

Dies blieb prägend für sein Verhältnis zum Film-Establishment, das er stets mit Argwohn betrachtete. Kaum dass er die Chance erhielt, mit einem größeren Budget „Terug nach Oegstgeest“ („Zurück nach Oegstgeest“) von Jan Wolkers zu verfilmen, die Erzählung über einen Mann, der am Sterbebett seines Vaters auf seine calvinistische Jugend in den Dreißigerjahren zurückblickt, schien sich sein Ruf zu festigen. Es war 1987, und die Enttarnung der christlichen Scheinheiligkeit stand in Film und Literatur auf der Tagesordnung. Wirkliche Anerkennung erwarb er in den 90ern, als er sich wieder von den großen Budgets und dem Produzentenkino abwandte. Auf eigene Rechnung drehte er „06“ (1993) über Telefonsex, einen spannenden Dialog zwischen einem Mann und einer Frau, und „Blind Date“ (1996), in dem es um den Kampf der Geschlechter ging und mit dem er sein erstes Goldenes Kalb gewinnen sollte, den wichtigsten niederländischen Filmpreis.

Am 12. Dezember wird als erster Film in der Geschichte der Niederlande im Internet postum sein Film über den Mord an Pim Fortuyn uraufgeführt. Einen Monat später folgt die Kinopremiere, wonach „0605“ auch auf dem Internationalen Filmfestival in Rotterdam aufgeführt werden wird. Am Abend seines Todes war van Gogh auf dem Weg in sein Produktionsbüro, um sich eine erste Schnittfassung dieses Films anzuschauen. Er soll als Schlüssel zu seinem Oeuvre gelten: sein erster (und letzter) Film, in dem er sein politisches Engagement auch künstlerisch darzustellen versuchte. Schlussendlich wird van Gogh als Ideenfilmer in die Geschichte eingehen, als jemand, der um das Recht stritt, seine Ideen zu äußern. Es ist bitter zu konstatieren, dass der im Alter von 57 Jahren grausam ermordete Cineast zeit seines Lebens so eilig seine Ideen zu verwirklichen suchte, dass seine Filme manchmal zu viel von seiner Unruhe preisgaben.

Jenseits des Lärms der politischen Diskussion bleibt das Werk von jemandem, der sich vor allem als Filmemacher betrachtete, der mit geringem Aufwand in „Interview“ (2003) einen Darsteller aus einer Soap Opera sich mit einem klassischen Theaterschauspieler duellieren ließ und der vor allem ein Humanist und im alltäglichen Umgang ein warmherziger Mensch war.

Die Autorin ist Chefredakteurin der Zeitschrift Filmkrant und Filmkritikerin für die Tageszeitung NRC Handelsblad. Übersetzung: Dietmar Bartz