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Archiv-Artikel

„Israel ist auf dem Weg in die Hölle“, sagt Michael Warschawski

Was ändert sich ohne Arafat in Nahost? Nicht viel. Denn Israel will keinen Kompromiss mit den Palästinensern

taz: Herr Warschawski, wird Arafats Tod den Friedensprozess im Nahen Osten verändern?

Michael Warschawski: Aus israelischer Perspektive wird es keine Veränderung geben, denn für die israelische Seite gibt es – mit und ohne Arafat – keinen Partner für den Friedensprozess. Aus palästinensischer Sicht dagegen werden die großen Kompromisse mit Israel, die Arafat zu machen fähig war und die den Friedensprozess erst ermöglichten, nun sehr viel schwieriger.

Glauben Sie, dass ein Bürgerkrieg in Palästina droht?

Nein. Warum denn? Das Problem, das wir jetzt haben, ist Israel, nicht Palästina. Im Gegenteil: auf palästinensischer Seite gibt es ein großes Gefühl von Verantwortung für die Stabilität. Die Gefahr ist vielmehr ein Bürgerkrieg in Israel.

Glauben Sie das wirklich?

Ich selber glaube nicht recht daran, aber es war das Hauptthema in den israelischen Zeitungen der letzten Monate. Die Ultrarechte in Israel bedroht Premier Ariel Scharon mit einem Bürgerkrieg. In Israel liegt die echte Gefahr.

Sie haben offenbar große Sympathien für die palästinensische Haltung. Als ich Ihr Buch „Mit Höllentempo“ las, habe ich ähnliche Sympathien für die israelische Seite vermisst.

Im Gegenteil. Das ganze Buch ist von großer Traurigkeit durchzogen, weil die israelische Gesellschaft sich falsch entwickelt. Es war schwierig, dieses Buch zu schreiben, es hat mich Tränen gekostet. Die israelische Gesellschaft steuert Richtung Suizid. Wir sind auf dem Weg in die Hölle. Das Buch ist voller Empathie für meine eigene Gesellschaft – aber eine Empathie, die sagt: Wir werden verrückt.

Sie beschreiben ausführlich palästinensische Opfer – aber israelische Kinder, die Attentaten zum Opfer fallen, kommen kaum vor. Warum?

Ich verstehe Ihre Frage nicht. Das ganze Buch dreht sich um die Frage: Was wird mit unseren Kindern geschehen? Es ist der Versuch, unsere, meine Kinder zu retten! Die Verrücktheit hier zerstört alle Hoffnungen für die Zukunft meiner Enkelkinder. Wird die Zukunft, die wir für sie gerade bestimmen, eine sein, in der Israel einen dauernden Präventivkrieg gegen die arabische oder sogar die muslimische Welt führen wird? Ich habe dieses Buch für meine Enkel geschrieben.

Darin kritisieren Sie die Tötung von Palästinensern, die Selbstmordanschläge planen. Auf der anderen Seite halten Sie es für legitim, israelische Ziele anzugreifen. Warum?

Wer Zivilisten angreift, ist ein Terrorist – egal ob aus einem Flugzeug oder einem Bus. Zivilisten anzugreifen, ist Terror – das ist meine Definition. Ich finde, es macht keinen Unterschied, ob diese Gewalt von Militärs oder Zivilisten ausgeübt wird, ob die Ziele Juden oder Araber sind, ob es sich um Individualterror oder Staatsterror handelt. Militär anzugreifen, ist hingegen legitim, auf beiden Seiten.

Nun argumentieren viele Israelis, dass nicht Zivilisten, sondern die Planer von Terrorattacken angegriffen werden.

Die israelische Armee wirft eine 1.000-Kilo-Bombe in eine Menschenmenge – ohne zu bedenken, wie viele Menschen getötet werden. Sie wollen keine Kinder töten – aber das entspricht nicht dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Man kann nicht, beispielsweise, eine Stadt mit einer Atombombe bombardieren, um ein paar Terroristen zu töten. Wir töten derzeit zehn Zivilisten, um einen Terroristen zu kriegen. Das ist weder ethisch zu rechtfertigen, noch entspricht es dem internationalen Kriegsrecht. Es ist ein Kriegsverbrechen. Genauso wie die Bombardierung von Dresden ein Kriegsverbrechen war. Nur weil dort ein paar Nazis waren, durfte man keine ganze Stadt bombardieren.

Der Vergleich zwischen Dresden und Aktionen der israelischen Armee – das ist exakt ein Argument deutscher Nazis …

Das weiß ich nicht. Wenn Neonazis so argumentieren, dann tun sie das aus anderen Gründen. Das Problem ist, dass die israelische Armee ohne Sinn für Verhältnismäßigkeit agiert und ohne Rücksicht auf Zivilisten.

Die Mehrheit der Palästinenser unterstützt noch immer extremistische Gruppen wie Hamas und Hizb Allah. Der Dialog, den Sie schon sehr früh mit Terroristen geführt haben, hat nichts genutzt.

Der Konflikt bleibt unvermeidbar, solange Israel die Rechte der Palästinenser nicht anerkennt. Israel akzeptiert die UNO-Resolutionen zum Nahostkonflikt nicht. Drei israelische Ministerpräsidenten haben sich offen dem Friedensprozess verweigert. Wir alle sind Opfer einer großen Mystifizierung, wonach die israelische Seite für den Kompromiss von Camp David 2000 war, während die Palästinser dagegen gewesen seien. Heute, nach den Enthüllungen von Robert Malley und Charles Enderlin, wissen die meisten Leute, dass dies eine Lüge war. Nur in Israel und Deutschland glauben die Leute noch daran. Warum also sollten die Palästinenser auf den Friedensprozess setzen? Sie müssten verrückt sein, irrational.

War es nicht tatsächlich Arafat, der das Abkommen von Camp David nicht wollte?

Nein, ganz einfach, nein. Ehud Barak hat doch selbst gesagt, dass dies eine Falle für Arafat war. Ehud Barak war für das Scheitern von Camp David verantwortlich.

Ihre Kritik an den korrupten palästinensischen Behörden ist sehr vorsichtig. Warum?

In meinem Buch geht es nicht um palästinensische Gesellschaft, sondern um die Krise der israelischen Gesellschaft.

Aber beide sind doch miteinander verbunden.

Meine Pflicht und meine Sorge als Israeli betreffen den Ärger in meinem Haus. Wenn mein Haus verdreckt ist und es durchs Dach regnet, dann nutzt es nichts, herumzulaufen und zu erzählen, dass es bei meinem Nachbarn auch ganz schön schlimm aussieht. INTERVIEW: PHILIPP GESSLER