: Kohldampf am Alexanderplatz
Ein russischer Endemol inszeniert ein russisches „Big Brother“ in Berlin: „Hunger“
Stellen Sie sich vor: Sie sind gerade im Supermarkt, und auf einmal stehen zwei Frauen vor Ihnen: „Ist das hier Deutschland? Sind wir in Berlin?“ Vorausgesetzt, Sie verstehen ein wenig Russisch, wären sie sicherlich irritiert. Die beiden 22-jährigen Russinnen Natalja und Karina bildeten die Vorhut einer zwölfköpfigen Gruppe, die für den russischen Privatsender TNT in Berlin-Spandau in einem Container wohnt.
Wie bei „Big Brother“ buhlen die Teilnehmer des Reality-Formates „Golod“ („Hunger“) um die Gunst des Fernsehpublikums in Russland. 100 Tage sind sie im Container, nach und nach werden einige rausgewählt. Der Sieger bekommt 1.000 Dollar monatlich – bis an sein Lebensende. Doch anders als bei „Big Brother“ werden die Kandidaten nicht nur Tag und Nacht beim Zähneputzen, Intrigenschmieden und Anbaggern gefilmt, sie müssen sich auch noch ihr Essen selbst besorgen: „Unsere Leute ohne Geld im Ausland“ heißt der Zusatztitel der Show.
Die Russen wussten anfangs nicht, wo sie sind. Natalja und Karina wurden mit einem Kamerateam am Brandenburger Tor ausgesetzt und sollten Essen für alle besorgen. Wenn sie angesichts der Berliner Sehenswürdigkeiten langsam eine Ahnung bekamen, sprach doch der lange Flug gegen Europa. Die Strecke Moskau – Berlin dauert nur drei Stunden. Sie wussten nicht, dass ihr Flieger acht Stunden Verspätung hatte. Deshalb also die Frage an den russisch aussehenden Mann im Supermarkt, sind wir hier in Berlin?
Der Russe kauft seinen mittellosen Landsleuten Brot, Käse und Wurst. Natalja und Karina liegen sich weinend in den Armen, die versteckte Kamera wackelt näher an die Mädchen heran. „So etwas habe ich noch nie zuvor erlebt“, schluchzt Natalja. „Sehen Sie, die beiden weinen vor Rührung und nicht vor Hunger“, will Roman Petrenko, Generaldirektor des Senders TNT, die Gerüchte der letzten Tage nun bei einer Pressekonferenz in Berlin entkräften. Höchste Zeit, denn die Vermutungen der hiesigen Zeitungen überschlugen sich mittlerweile dahingehend, die hungernden Russen würden auch vor Klauen- und Anschaffengehen bald nicht mehr zurückschrecken.
Die beiden Damen kämen aus sehr wohlhabenden Familien und wären noch niemals in der Situation gewesen, jemanden anbetteln zu müssen, so Petrenko. „Hunger“ sei für sie ein radikales, soziales Experiment, lebensbejahend und inspirierend: „Golod“ ist ein ganz normales Reality-Format.“
Die beiden Afroamerikaner, die die Russinnen abschleppen wollten, seien echt gewesen, betont Petrenko. „Das haben wir nicht inszeniert“, freut sich der Generaldirektor des russischen Senders. Dann muss er zugeben, dass die Kandidaten Verträge unterschrieben haben, in denen sie die Verantwortung für Schäden an ihrer Gesundheit oder ihrem Leben übernehmen.
Auch dass die Angehörigen psychisch betreut werden müssen, räumt Petrenko ein. Ein ganz normales Reality-Format also? Der deutsche Big-Brother-Produzent Endemol hat schon sein Interesse an „Golod“ bekundet. Vielleicht können wir uns also bald auf hungernde Deutsche in Russland freuen. SILVIA HELBIG