: Nein zur Arbeitszeitverlängerung
betr.: „Arbeiten wie im Osten, leben wie im Westen“ von der Grünen-Politikerin Antje Hermenau, Ost-taz vom 9. 11. 04
Wenn Frau Hermenau mit ihrer eigentümlichen Überheblichkeit („wir Ossis haben das schon durch, liebe Wessis“) an Gemeinschaft und gemeinsame Ziele appelliert, so betet sie exakt die Polemik nach, die die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen der letzten Zeit so gern benutzt haben. Die Arbeitgeberverbände werden sich für diese grüne Unterstützung bedanken. Dass „der Lohn pro Arbeitsstunde ein bisschen gesenkt“ würde, kann nur jemand glauben, der noch nie nachgerechnet hat, dass eine Erhöhung der Arbeitszeit von 38,5 bzw. 35 auf 40 Stunden bei gleichem Lohn zu einer Lohnkürzung von 3,75 % bis zu 12,5 % führt. […] Um eine Gesellschaft zu erreichen, in der ich leben will, müssen wir für eine gerechte Verteilung unseres Reichtums auf der Welt sorgen. Und wir müssen eine weitere Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen stoppen, um eine Mitbestimmung aller Menschen über diesen Reichtum zu ermöglichen. Ganz sicher müssen wir nicht auf die Zeit für die ausgiebige Lektüre der taz oder das Kaffeetrinken mit Freunden verzichten, indem wir für gleichen Lohn mehr arbeiten, nur um die Gewinne von wenigen zu steigern und damit den Verlust dieser Mitbestimmung noch zu beschleunigen. PETER KRÖGER, Köln
Es nimmt ja schon tragikomische Züge an, wenn Frau Hermenau in ihrem von keinerlei Sachkenntnis getrübten Gastartikel gewissermaßen einen zivilisatorischen Vorsprung darin erkennt, dass im Osten schon 40 Stunden gearbeitet wird, während man sich im Westen noch kleinkariert über Kommastellen streitet.
Die derzeitige Arbeitszeitdebatte ist ein ideologischer Großangriff auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, der in der Konsequenz zu allem Möglichen führt, nur nicht zu neuen Arbeitsplätzen. Erstens ist es unsicher, ob Mehrarbeit denn auch zu mehr Produktivität führen würde oder ob nicht die bisherige Arbeitsleistung einfach auf 40 Stunden ausgedehnt würde. Zweitens wäre auch bei höherer Produktivität keineswegs sichergestellt, dass man die zusätzlichen Waren oder Dienstleistungen denn auch an den Mann bzw. die Frau bringen könnte, denn mehr Geld zum Ausgeben sollen die Menschen für die Mehrarbeit ja nicht bekommen. So besteht also drittens die Gefahr, dass die Kostensenkung für die Unternehmen dadurch realisiert wird, dass man dieselbe Menge mit weniger Mitarbeitern produziert, also noch mehr Leute rausschmeißt.
Und das Gejammer von den deutschen Freizeitweltmeistern ist doch auch längst widerlegt. Mit der tariflichen Arbeitszeit von 37,8 Stunden liegt Deutschland im soliden Mittelfeld; die tatsächliche Arbeitszeit von 39,9 Stunden bringt uns in Europa sogar in die Spitzengruppe. Wäre das nicht so, wäre Deutschland auch nicht Jahr für Jahr Exportweltmeister. Vielmehr ist es doch die kaufkraftabhängige Binnennachfrage, die schwächelt. Diese Tatsachen werden inzwischen auch von keinem seriösen Wirtschaftswissenschaftler mehr geleugnet.
Und schließlich noch das: Gäbe es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und Wirtschaftskraft, müsste der Osten mit seinen 40 und mehr Wochenstunden boomen, und Bayern und Baden-Württemberg mit ihren vielen katholischen Feiertagen würden am Stock gehen. KAI BERKE, Göttingen
Kürzere Arbeitszeiten sind zwar noch keine 30 Jahre alt, aber bereits ein Relikt; längere Arbeitszeiten sind viel älter, aber hochmodern, wenn wir der Logik dieses Artikels folgen. Und letztendlich sei es ja auch egal, wie lange wir arbeiten.
Also mir ist das nicht egal! Es gibt außer Geld noch weitere entscheidende Faktoren, die die Lebensqualität bestimmen, und einer davon ist Zeit. Und wenn mir von meiner Freizeit etwas genommen wird, dann macht mir das was aus und dann bin ich nur bereit dazu, wenn es nicht anders geht. Und genau hier ist die große Lücke: die eigentliche Frage ist nicht, ob Arbeitszeitverlängerung zumutbar ist, sondern ob sie notwendig ist. Sie wird uns als notwendig verkauft, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, aber wie das funktionieren soll, konnte noch niemand schlüssig erklären. Wenn die Menschen mehr arbeiten bei gleichem Gehalt, kann die Kaufkraft in Deutschland nicht steigen, sondern höchstens gleich bleiben (wenn nicht sogar sinken, denn man hat ja weniger Zeit zum Konsumieren). Und wenn die, die Arbeit haben, länger arbeiten, braucht man insgesamt eher weniger Arbeitskräfte als mehr. Das Ganze scheint eher auf der absurden Hoffnung zu beruhen, mit der Wiedereinführung der Arbeitsbedingungen aus den 50er-Jahren vielleicht den Aufschwung der 80er noch mal heraufbeschwören zu können. Daran glaube ich nicht und deshalb sage ich Nein zur Arbeitszeitverlängerung. Was wir brauchen, sind wirklich neue Konzepte. JOHANNA PAUL, Darmstadt
Die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche vernichtet erst mal Arbeitsplätze: bei konstanter Produktionsmenge werden weniger Arbeitskräfte benötigt, bei steigender Produktionsmenge entstehen Arbeitsplätze nicht, die sonst entstanden wären. In beiden Fällen ist die Summe der Arbeitnehmereinkommen und damit die Konsumnachfrage geringer, als sie bei der 36/38-Stunden-Woche wären, was erst mal konjunkturdämpfend wirkt.
Aber sagen uns nicht die Unternehmerverbände und die ihnen nahe stehenden Medien und Parteien, dass die geringeren Lohnkosten zu mehr Investitionen und damit mehr Arbeitsplätzen und Einkommen führen werden? Das stimmt – für schätzungsweise 0,01% der Investitionsentscheidungen. 99,9 % der Investoren entscheiden sich sowieso oder sowieso nicht für den Standort Deutschland. Die 0,01%, bei denen die Kalkulation gerade auf der Kippe steht, verlieren wir auch noch, wenn wir bedenken, dass die deutsche Rückkehr zur 40-Stunden-Woche ähnliche Entwicklungen bei den Standortkonkurrenten auslösen wird – und schon ist selbst dieser Wettbewerbsvorteil dahin. Was bleibt? Mehr Arbeitslose, mehr Arbeit für dasselbe Geld für die Nicht-Arbeitslosen, eine stagnierende Ökonomie – und das bei allen Standortkonkurrenten. […]
HANS BAIER, Frankfurt/Main
Weitere Briefe zur 9.-November-Ausgabe am Samstag im Magazin Seite VIII „taz muss sein“
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