Opferkinder, Täterkinder und das Familienerbe

Im Kreuzberger Eiszeit-Kino geht eine Filmreihe der Frage nach, welche Folgen die Untaten der Nazis für die „zweite und dritte Generation nach dem Holocaust“ hatte – sowohl bei den Nachkommen der Opfer wie der Täter. Von den Folgen des Schweigens und Verdrängens der Papas und Opas

von PHILIPP GESSLER

Der Satz fast ein Schock, vielleicht nur so rausgerutscht, unglücklich formuliert, anders gemeint, aber er bleibt kleben: „Ich bin nicht sein Blut.“ Das sagt Dirk Kuhl, ein pensionierter Lehrer, der heute in Nürnberg wohnt. Sein Vater, dessen Blut er nicht ist oder sein will, war der Gestapo-Chef in Braunschweig. Der Nationalsozialist war bis 1945 zuständig für ein Zwangsarbeiterlager der Hermann-Göring-Werke in Salzgitter. Dort starben 3.000 Menschen. Dirk Kuhl hat herausgefunden, dass sein Vater nachweislich an der Hinrichtung von Inhaftierten beteiligt war. Als einer der Lagerwächter dabei mal schlapp machte, herrschte ihn Gestapo-Chef Kuhl an: Ob er denn weltanschaulich nicht gefestigt genug sei?

Solche Geschichten sind zu hören in einer Filmreihe, die der Berliner Verein „Tacheles Reden! Gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus“ am Donnerstagabend begonnen hat. Unter dem Titel „Geschichte. Familie. Identität“ geht es um die psychischen Folgen des Holocausts für die Kinder und Enkelkinder der Opfer – und der Täter.

Das ist eine verzwickte Sache, bei der viel im Gefühlten, Geahnten bleibt. Grob gesagt, handelt es sich dabei darum: Es gibt viele Nachkommen von Schoah-Überlebenden, die das Wissen um das Leid ihrer Eltern und Großeltern in der Nazizeit nicht verkraften, nicht damit umgehen können, manchmal deshalb psychische Schäden davongetragen haben. Das häufige Schweigen über die Tortur konnte für die nachfolgende Generation ebenfalls zur Tortur werden. Bei den Kindern und Enkeln der NS-Täter konnte es ähnlich sein: Das Verschweigen oder Verdrängen der Schuld der Väter hat sich bei manchen Jüngeren in diesen Familien ebenfalls als qualvolles Erbe überliefert, unter dem sie noch heute leiden.

In dem Film „Eine unmögliche Freundschaft“ von Michael Richter und Bernd Wiedemann wird die Geschichte Dirk Kuhls erzählt: Der Dokumentarfilm schildert, wie sich Kuhl, Kind eines Täters, und der Bostoner Mediziner Samson Munn, Sohn einer Auschwitz-Überlebenden, anfreunden. Sie haben sich kennen gelernt in der Gruppe „To Reflect and Trust“ des Psychologen Dan Bar-On. Der Israeli führt Nachkommen von Opfern und Tätern zusammen – „um ‚im Niemandsland der Vorurteile‘ mit Hilfe ‚absoluter Offenheit‘ zu einer Verständigung zu gelangen“, wie das Begleitheft zur Filmreihe erläutert. Das gegenseitige Kennenlernen und Erzählen der Familiengeschichte soll helfen, mit ihr besser zurechtzukommen.

Kuhl stand für Fragen nach der Vorführung des Films zur Verfügung. Er schilderte, wie sehr ihn das Schweigen und die Lügen über die Taten des Vaters („Er hat nichts Unrechtes getan“, beteuerte die Mutter) belastet hat. Als er herausfand, wie der Vater sich schuldig gemacht hatte, „fühlte ich mich belogen und betrogen“, erzählt er. „Ich habe mich von meiner Familie innerlich verabschiedet“, denn „da ist der Generationenvertrag gebrochen worden“. Kuhl hatte „das Gefühl der Verlassenheit und Betrogen-worden-Seins“. Später heiratete er eine jüdische Frau. Er kam zum Ergebnis, dass „mein Vater mein natürlicher Feind“ war. Auch aufgrund dieser Familienerfahrung beschloss Kuhl, keine Kinder haben zu wollen.

Warum aber keine Kinder – weil der Großvater ein Nazitäter war? Was bringt es dem Kind eines Täters, mit Kindern von Opfern zusammenzukommen? Wird man bei der Beschäftigung mit der Schuld von Papa oder Opa wirklich „innerlich frei“, wie Kuhl sagte? Was hat ein Opferkind davon, sich mit einem Täterkind zu beschäftigen? Und was, verdammt, soll das alles mit „Blut“ zu tun haben?

Die Diskussion am Donnerstagabend stellte diese Fragen – und auch wenn nicht alle Antworten zu befriedigen vermochten, konnten sie doch das Interesse auf weitere Filme und Diskussionen in dieser Reihe erhöhen. Es geht um die Grenzen des Sagbaren, hinein in die Untiefen der Familie. Ein aufregendes Ziel.

Sechsteilige Filmreihe „Geschichte. Familie. Identität“ im Eiszeit-Kino, Zeughofstr. 20 (Kreuzberg). Nächster Film: „Mein Leben Teil 2“ heute Abend um 19.30 Uhr samt anschließender Diskussion mit der Regisseurin Angelika Levi. Letzter Film am 20.11.: „Mein guter Vater. Eine Tochter klagt an“ von Yoash Tatari. Beate Niemann, die Tochter, diskutiert danach mit den Zuschauern