: Manische Manieren
Alle benehmen sich scheiße – nur Charlotte Roche nicht. Warum muss der Diskurs über Anstandsregeln immer gleich in der Disziplinierungsfalle enden? Und folgt auf die zwangsenthemmten TV-Freakshows unweigerlich ein Neo-Biedermeier?
Von JAN ENGELMANN
In der Alten Schönhauser Straße in Berlin-Mitte gibt es diese Filiale des O.K.-Versands, die skurrile Alltagsgegenstände aus aller Welt feilbietet. Zu den absoluten Verkaufsschlagern gehört ein indisches Schulplakat mit bunten Illustrationen und Bildunterschriften auf Hindi und Englisch. Es listet penibel Benimmregeln auf und existiert in zwei Versionen, einmal für die „good habits“, einmal für die „bad habits“. Keine Frage, welche der beiden Versionen bei den Konsumenten beliebter ist. Ziviler Ungehorsam rules, nicht nur in Mitte. Für die neue Elterngeneration, die mit Michel aus Lönneberga groß wurde, ist der erhobene Zeigefinger per se nicht ganz so verbindlich zu sehen.
Doch manchmal wird es selbst den Nachsichtigsten unter ihnen zu viel. Denn die gleiche Alterskohorte, die aus ihrer eigenen Kinderladen-Sozialisation und den antiautoritären Experimenten der 68er gewissermaßen eine Grundresistenz gegenüber Strenge und Rohrstock-Rhetorik gewonnen hat, brachte auch die wichtigsten Vertreter eines flächendeckenden Pippikacka-Humors hervor, wie er einengender und disziplinierender nicht sein könnte. Zwangsjuvenil und naughty by nature, hinterlassen die Zotenkings ihre Ätschi-bätschi-Duftmarken an jeder Ecke. In ihrer angestammten Hoheitssphäre des TV benutzt man eingeübte zivilisatorische Codes, die sorgsam zwischen „noch erlaubt“ und „nicht zulässig“ scheiden, nicht einmal mehr zum Po-Abputzen. Wer da noch auf Sitte und Anstand pocht, muss entweder ein gut verdienender Promi-Anwalt oder ein erzkonservativer Hauswart sein. Irgendwelche „klare Grenzen“ (Angela Merkel) scheint keiner mehr zu kennen, nur noch ein telegenes Kartell der gegenseitigen Überbietung.
Dieser enthemmte Zustand wird gerne beklagt, leider meistens unter den falschen Prämissen. So nahm auch das Novemberheft der Zeitschrift Psychologie heute den medialen Flegel-Boom zum Anlass, über die „Kultur des Trash“ zu richten. Gewürzt mit einer Prise Herbert Marcuse („repressive Entsublimierung“) wetterte Autor Matthias Jung gegen die allgemeine „Inthronisierung“ allzu menschlicher Lüste und den Wegfall jeglicher „Scham- und Dezenznormen“. Schleichend habe ein Strukturwandel von Bürgerschreck Zappa (gewissermaßen ein Rüpel ersten Grades) zu Walter Moers’ „Kleinem Arschloch“ (Rüpel zweiten Grades) stattgefunden, in dessen Verlauf die ehemals progressive Stoßrichtung von gezielten Tabubrüchen in eine apolitische Harmlosigkeit umgeschlagen sei: „Heutzutage hat das Bildungsbürgertum seine kulturprägende Kraft nahezu verloren, und nichts könnte weniger subversiv sein als das Hervorrülpsen der eigenen Befindlichkeiten und Triebregungen. Die Veralltäglichung des Trash ist daher die Geburtsstunde einer neuen Form kleinbürgerlichen Ungeistes. Und in der erklärten Absicht, wenigstens damit provozieren zu können, behaupte ich: Die Mitglieder der Generation Trash sind die neuen Spießer.“
Das klingt gut, weil es den bereits antizipierten Vorwurf, eine pädagogisch-verbiesterte Spaßbremse zu sein, souverän ins Feld der unbeschwerten Spaßterroristen zurückspielt. Enttarnt als kleinbürgerliches Zwangsverhalten, muss uns kein Puller-Alarm mehr den Schlaf rauben. Aber verhält es sich tatsächlich so? Ist das Unmanierliche längst das alleinige Privileg von angepassten Dumpfbacken, die einfach zu bequem oder zu unkreativ sind, um andere Regelverstöße überhaupt zu erdenken? Derart reduziert auf ihre „ferkelige“ Praxis, würden nämlich auch „Fäkalkünstler“ wie Paul McCarthy, die feministische Sex-Performerin Annie Sprinkle oder die kanadische Popsängerin Peaches mit ihren obszönen Gesten unter diese Kategorie fallen, also allesamt Kunstproduzenten, denen man einen gewissen Mehrwert der Überschreitung nicht absprechen möchte.
Und ist Jung auch darin Recht zu geben, dass ein Spießer dadurch charakterisierbar ist, „sich die eigenen Überzeugungen, Kleidungsstile und Verhaltensweisen dort abzuholen, wo der Konformitätsdruck des Zeitgeistes sie hingelegt hat“? Gemäß dieser engen Definition von Spießertum müsste man nämlich den Löwenanteil des gesamten hoch- wie popkulturellen Schaffens, man denke nur an Thomas Mann oder Andy Warhol, unter das Verdikt des braven „Abholens“ stellen. Und, so wäre drittens zu fragen, werden Adenauer-Piefigkeit und Popmoderne schon dadurch strukturanalog, dass es keinen Unterschied mehr mache, „ob der Zeitgeist, wie in den restaurativen 50er-Jahren, züchtige Verhüllung oder, wie heutzutage, tätowierte Nacktheit bevorzugt“? Es scheint, als habe Jung der Versuchung, den neuen Rülpszwang schön dialektisch gegen das überholte Rülpsverbot auszuspielen, nicht widerstehen können.
Und es passt ja auch zu gut. Trugen Benimmratgeber in den 50er-Jahren noch krude Titel wie „Einmaleins des guten Tons“, so würde heute kein Verlagshaus derlei steife Knigge-Didaktik mehr verantworten wollen. Stattdessen lässt man lieber die Sau raus beim Rudelbums in der Wertschöpfungskette. Dass sich ausgerechnet Eichborn, der einstige Moers-Verlag, nun mit dem gelehrten Stiltraktat „Manieren“ des Äthiopiers Asfa-Wossen Asserate (Andere Bibliothek Bd. 226, 392 S., 22,90 €) bewusst davon absetzt, überrascht nach näherem Hinsehen kaum. Denn dieser Coup hat weniger mit einem echten Bedürfnis nach einem „normativ erneuerten Verständnis von Bürgerlichkeit“ (Jung) zu tun als vielmehr mit deren elitären Neuinszenierung durch den feinsinnigen Hans Magnus Enzensberger. Wie abwegig ist eigentlich die hie und da schon geäußerte Vermutung, dieser habe Asserate nur als Autor vorgeschoben, um eine kräftige Diskursdosis in die aufs Ödeste enthemmte Spaßgesellschaft zu injizieren? Sähe ihm doch ähnlich, dem schlauen Fuchs, auf dem Umweg über einen exotischen Eye-Catcher eine moralisch motivierte Ethnografie des Eigenen durchzuspielen.
Jungs Rülpszwang-These klingt zwar gut, kennt ihren Foucault aus dem Effeff und fiele ansonsten auch nicht unangenehm auf, wenn sie nicht auf altbackene Weise einem gefälligen Reaktionsmuster aufsitzen würde: Wenn ihr mir keine manierliche Kultur mehr bieten wollt, dann lege ich halt Arte auf den Programmplatz eins um und lese in der U-Bahn finnische Höhenkamm-Literatur, so! Der gewissermaßen zurückgegebene Spießervorwurf verkennt, dass „Kultur“, oder was immer man darunter fassen mag, keine Angelegenheit ist, die nach dem Entweder-oder-Prinzip oder einer U-und-E-Polarität funktioniert. Stattdessen existieren dort Erst- und Zweitverwertungen sozialer Codes, affirmative und kritische Lesarten sowie die unterschiedlichsten Vorstellungen, was das nun wieder fürs Ganze bedeutet, hübsch nebeneinander.
Auf dieser komplizierten Matrix tatsächlich einen „infantilisierenden Sog“ (Jung) als einzige Haupttendenz auszumachen, ist so dünkelhaft wie voreilig. Die Wette gilt, dass schon in wenigen Jahren viele erfolgreiche TV-Formate vorrangig die Frage behandeln werden, „was sich gehört und was nicht“. Ein lästiger Neo-Biedermeier, wie ihn der Spiegel schon vor Monaten herbeihypte, wird die lästigen Freakshows ablösen, und sei es nur aufgrund einer zyklischen Gesetzmäßigkeit.
Was die Rülpszwang-These zudem übersieht, ist, dass auch die Popkultur – als vermeintlicher Hauptverbreitungsweg des Unmanierlichen – immer noch schlauer ist, als die Polizei erlaubt. Ist es nicht so, dass Charlotte Roche ihre Gäste viel respektvoller behandelt als der mitunter hinterhältige Johannes B. Kerner und dabei nie ihre jugendliche Glaubwürdigkeit einbüßt? Roches entwaffnende Höflichkeit ist dabei einer Empathie geschuldet, die eine der gerne vergessenen Errungenschaften der 68er-Elterngeneration darstellt. Asserate betont bei seinen kurzen Ausführungen zur Studentenbewegung einseitig deren unschicklichen „Radau“ und ist sich darin mit jenem FAZ-Leserbriefschreiber einig, der neulich über Joschka Fischers ständige Tischtelefonate beim Bundespresseball klagte.
Dabei verkennt oder verschweigt Asserate, dass die vorlauten Appellbürger von damals gleichzeitig einen gegenseitigen Stil des Umgangs einführten, der die traditionell mit dem Wohlverhalten verbundenen Nutzenkalküle („Noch einen Kaffee, Herr Generaldirektor?“) einfach kappte. Der diskrete Charme der Bourgeoisie bestand nun darin, diesen Charme selektiv einsetzen zu dürfen, nämlich dann, wenn es der Gegenüber auch tat. Gegen den kulturellen Siegeszug dieser ungezwungenen, gleichsam „sanften“ Höflichkeit konnten auch Berliner Taxifahrer, Klaus Kinski oder die Oi-Punks wenig ausrichten.
Max Goldt, ein aufmerksamer Chronist der Popkultur und erklärter Verfechter eines „Funkens von Restanstand“, ist sich mit Katharina Rutschky darüber einig, dass ein zeitgemäßes Benimmbuch für Jugendliche nicht schaden könnte. Darin solle allerdings nicht erörtert werden, ob man ein Glas Wein nun an der Coppa oder am Stil anfasst, sondern es müsse darum gehen, „Regeln darüber zu verbreiten, wie man sich ohne karrieristische Hintergedanken gegenüber Menschen des eigenen Milieus verhält“.
Diese Einschränkung kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden, weil sie die Denkhaltung von zeitgemäßen Benimm-Fans markiert. Keiner von ihnen möchte nämlich den abgeschmackten Grobianismus mit einem neuen Aristokratismus austreiben. Keiner erträumt sich eine Renaissance von Autoritäten, die eine Deutungshoheit für das Unerlaubte beanspruchen. Im Gegenteil. Den Distinktionen endlich ihren Stachel ziehen, darum geht es. Die gesellschaftliche Repräsentation endlich ohne ein verpflichtendes Milieu zu denken, ohne den Zwang, es insbesondere den eigenen Leuten immer „recht zu tun“. Denn solange Manieren oder der gezielte Verstoß gegen sie an soziales Prestige gekoppelt sind, bleiben sie manisch.