Schröder erzählt: Vogelsberg :
Die Zeitung als Diskursmedium
VON BARBARA KALENDER UND JÖRG SCHRÖDER
Im Oktober 1980 erschien in Transatlantik meine Geschichte „Die Eingeweide der SPD. Erzählungen über die oberhessische Basis“. Am nächsten Tag lautete die Schlagzeile der taz: „Atomminendepots an der DDR-Grenze“, und darunter stand: „Wollen Sie mal ein Atomminendepot sprengen? Fahren Sie in die Grenzgebiete zur DDR. Alle vierzig Kilometer entlang der Grenze hat die Nato Munitionsdepots eingerichtet, die auch Atomwaffen enthalten. In als Wasserwerke getarnten Sprengstoffbunkern lagern zusammen mit konventionellem Sprengstoff hochradioaktive Atomminen, die für die entlang der Grenze ausgehobenen Atomminenschächte bestimmt sind. Nach Auskunft eines dort ansässigen SPD-Funktionärs sind diese Depots völlig unzureichend gesichert: Entlüftungsschächte laden zur Platzierung von Sprengsätzen ein. Nato-Streifen mit Geigerzählern überprüfen hier alle zwei Tage eventuelle radioaktive Abstrahlungen. Kein Wunder: Zwei Kilometer im Umkreis eines Wasserwerks war schon mal das Gras verseucht. Die Dinger hatten abgestrahlt. Einen Auszug aus der Transatlantik-Reportage von Jörg Schröder bringen wir auf Seite 9.“
Als ich Barbara an diesem Abend in Fulda vom Bahnhof abholte – die IC-Züge zwischen Frankfurt und Fulda waren proppenvoll mit Pendlern –, erzählte sie mir: „Alle reden über die Atomminendepots! In meinem Abteil hatten fünf Leute den taz-Artikel gelesen und diskutierten darüber. Jörg, das wird eine Sensation!“ Es wurde mehr als das, es war die Geburtsstunde der neuen Friedensbewegung. Die wird in den Medien ja meist als ein breiter Strom dargestellt, der seit den Fünfzigerjahren ununterbrochen dahinfloss. Das ist Quatsch! Zwar brachte die frühe Ostermarschbewegung große Menschenmengen auf die Straße, aber als Ende der Siebziger die Stationierung von Atomwaffen in der BRD durchgesetzt war, dümpelten die Proteste so dahin. 1979 gingen wegen des Nato-Doppelbeschlusses keine Massen auf die Straßen, gekämpft wurde gegen AKWs, die Atommülldeponie bei Gorleben, die Frankfurter Startbahn-West und für ökologische Reformen. Das änderte sich jetzt, nach der Veröffentlichung in Transatlantik und der taz. Die Atomrampe Deutschland wurde zum alles beherrschenden Thema, das am Ende hunderttausende mobilisierte.
Es fing ziemlich harmlos an: Umweltschützer schrieben offene Briefe an Landräte, Staatssekretäre oder Minister und bezogen sich darin auf meine Geschichte in der Transatlantik oder der taz. Es folgten die üblichen abwiegelnden Stellungnahmen, ein hessischer Landtagsabgeordneter stellte Strafantrag gegen mich. Die ersten Presseleute meldeten sich, darunter auch Andreas Orth, er arbeitete als Reporter der taz für die Hamburger Stadtausgabe und stellte sich auf merkwürdige Weise vor: „Ich bin ein Freund von Jan Philipp Reemtsma.“ Mir sagte dieser Name damals noch nicht viel, ich wusste nur, dass es sich um den literaturbeflissenen Erben des Zigarettenkönigs Philipp Fürchtegott Reemtsma handelte, dessen Imperium der Sohn versilbert hatte. Über den Vater hatte ich hingegen einiges gelesen, und zwar im Omgus-Bericht über die Untersuchungen der US-Militärregierung gegen die Deutsche Bank, den ich ja 1972 fast verlegt hätte. In dem taucht der Reemtsma-Konzern in gewissen Balkanzusammenhängen auf, außerdem war dieser Fürchtegott Intimus von Hitler, Heß, Göring und anderen Größen des Dritten Reiches gewesen. Mit dem taz-Reporter Andreas Orth im Schlepptau inspizierte ich ein geheimes Atomwaffenlager im Vogelsberg. Ihm folgten Journalisten von FAZ, ARD, Bild und Stern. Jetzt ging der Tanz richtig los! Zwei Monate hing ich täglich stundenlang am Telefon, gab Journalisten und Mitgliedern irgendwelcher Initiativen Auskünfte. Der Militärexperte Wolf Perdelwitz machte daraus im Stern seine Geschichte über die „Atomrampe Deutschland“. Wie sprunghaft sich das entwickelte, kann jeder nachlesen, denn ich habe das alles Uwe Nettelbeck erzählt. 1982, auf dem Höhepunkt der Friedensbewegung, erschien „Cosmic“ in Nettelbecks Republik und wenig später auch im März Verlag.
Gleich nach dem Erscheinen von „Cosmic“ brachte der Pflasterstrand, das Frankfurter Sponti-Magazin, eine giftige Invektive gegen Nettelbeck und mich. Der Autor des Artikels benutzte das seltsame Pseudonym C. Sciolti, was italienisch ist und alles Mögliche bedeuten kann, unter anderem auch: streunende Hunde. Dieser eine Hund warf mir vor, ich sei nicht besser als andere Wichtigtuer im Literatur- und Feuilletongewerbe, die kritisch das Maul aufrissen, wenn es aber darauf ankomme, sich als jämmerliche Fliegenficker erwiesen. Das begründete er so: Die taz hatte auf seine Empfehlung einen Text aus „Cosmic“ abgedruckt, in dem es um jenen Andreas geht, der mich im Vogelsberg im Auftrag der taz besucht hatte. Damals konnten sich die taz-Redakteure nicht genug tun an selbstironischen Paraphrasen ihrer eigenen Arbeit. Mathias Bröckers, der die Kultur machte, immer vorneweg, und so kam es ihm zupass, dass in meinem Text dieser Andreas von der taz auf die Schippe genommen wurde. Aber das Blatt war noch jung und hatte in seiner unbekümmerten Art den Text abgedruckt, ohne Nettelbeck und mich zu fragen.
Da hatte der taz-Sponti Bröckers aber nicht mit Uwe Nettelbeck gerechnet. Er schickte der tageszeitung eine Rechnung über fünfhundert Mark als Honorar für den Abdruck und verlangte außerdem eine korrigierte Veröffentlichung des Textes, weil er 203 Setzfehler gezählt habe. Und er drohte mit seinem Anwalt Fried von Bismarck, der auch den Spiegel vertrat. Das mit den Setzfehlern stimmte, die taz wimmelte nur so davon, und die Interpunktion war wie mit der Streusandbüchse verteilt. Statt eines ordentlichen Korrektorats gab es die tollen „Säzzer“-Bemerkungen, deren Zwischenrufe die Leser mit in die Diskussion zogen. Die tageszeitung war eben in ihren Anfängen ein anarchisches Blatt, das aber wegen seiner chaotischen Machart jeder sterilen Zeit vorzuziehen war. Von Nettelbecks kleinlichem Vorgehen gegen die taz erfuhr ich erst durch Scioltis Polemik im Pflasterstrand. Wie es manchmal so ist, hatte ich ausgerechnet diese Ausgabe nicht gelesen. Und wohlgemerkt, mich als Erzähler hatte der Genauigkeitsfanatiker und Koautor Nettelbeck nicht gefragt, mir auch keine Kopien seiner querulatorischen Briefe geschickt. Doch das konnte dieser Sciolti ja nicht ahnen, der musste annehmen, Nettelbeck habe sich auch in meinem Namen aufgeplustert. Deswegen beschimpfte er mich im Pflasterstrand wütend als einen, der sich in „Cosmic“ als Anarcho präsentiere, in Wirklichkeit aber ein aufgeblähter Wichtigtuer sei. Ich schrieb Sciolti einen Brief: Wenn es so wäre, wie es den Anschein habe, läge er richtig. Da ich jedoch von der ganzen Sache nichts gewusst hätte, fühlte ich mich von seinen Angriffen nicht getroffen. Gleichzeitig erteilte ich der taz – das gab ich Mathias Bröckers schriftlich – für meinen urheberrechtlichen Anteil, das heißt für die ideelle Hälfte des Textes, nachträglich die Abdruckgenehmigung, und zwar inklusive aller Setzfehler. Ich schlug ihm vor, doch den halben Text neu zu drucken, wenn Nettelbeck das verlange, denn ich verzichte salomonisch auf die Ansprüche aus meiner Hälfte. Damit war die Nettelbeck’sche Rechtsposition entkräftet, und er musste Ruhe geben. Jetzt rief Sciolti an, erklärte mir, dass er eigentlich Helmut Höge heiße, und fragte, nachdem er jetzt „Cosmic“ wieder gut finden könne, ob er mich besuchen dürfe, denn er wohne auch im Vogelsberg. So fing das an. Ein paar Tage später kam Höge in Begleitung eines Freundes, der sich als Peter Oeltze von Lobenthal vorstellte, aber kurz Povl genannt werden wollte. Die beiden gehörten von nun an in den Vogelsberger März-Jahren zu unseren ständigen Hausgästen und den Befruchtern meiner Erzählungen. Sie zogen ihre Joints durch, Barbara und ich tranken Wein, Cognac und Kaffee. Nur so viel zu Bhang und Alkohol sowie den angeblichen Kommunikationsunvereinbarkeiten unterschiedlicher Drogistenpsychen. Trotz der angeblich inkompatiblen Drogen verstanden wir uns blendend und beschlossen schon am ersten Abend, dass ich eine Geschichte erzähle, die wir auf Band aufnehmen und dann in der taz veröffentlichen. Nachträglich betrachtet hatte dieses Leben im Vogelsberg einen Hauch von Monte Verità. Erstaunlich, was alles in dieser ereignisarmen Gegend passierte und zusammenkam. Aber was heißt schon ereignisarm? Wenn sich die richtigen Leute in irgendwelchen Käffern niederlassen, funktioniert das nicht anders als im Kiez einer Metropole. Wir ließen also das Band laufen, ich erzählte vom Abend bis zum Morgengrauen, dann war die Sache im Kasten. Nach einem ausgiebigen Frühstück, das noch mal Stunden dauerte, fuhren unsere Freunde nach Hause, und wir legten uns ins Bett. Höge und Povl teilten sich die Arbeit des Abschreibens, anschließend redigierten Barbara und ich den Text, ließen aber noch viel vom ursprünglichen Parlando stehen. Inzwischen vermindern wir die Redundanz, ein weit verzweigtes Werk wie „Schröder erzählt“ verlangt eben eine andere Manier als diese „dit und dat“-Erzählungen für die taz. 1983 erschienen die drei Riemen „So-ja-Bohnen“, „Maggi pur“ und „Gewissensbisse“, insgesamt etwa sechzig Buchseiten. Helmut und Povl wirbelten mit ihren eigenen Sachen, im März Verlag kam die „Mammut“-Anthologie heraus, der „März-Akte“-Film, der im Vogelsberg spielt, lief fünfmal in verschiedenen ARD-Programmen. Von überallher rollten neugierige Zivilisationsästheten an – ob sie nun Renée Zucker oder Florian Havemann hießen –, um die Wunder im Mittelpunkt der Bundesrepublik nicht zu verpassen. Immer mehr Leute ließen sich in der Gegend nieder, natürlich auch der Trendexperte Matthias Horx. Kein Zuzug hingegen war der von Matthias Beltz, sondern eher eine Rückkehr, denn er war in Wohnfeld aufgewachsen, dem Ort, wo Höges Freundin Heike sich ein Haus gekauft hatte.
Tatsächlich brachte diese Zusammenarbeit viel mehr als nur ein paar lustige Geschichten. Es verging kein Tag, an dem nicht Mathias Bröckers am Telefon hing, mich bekifft kichernd abhörte und sich meine Assoziationen reinzog, die er umgehend in seine Artikel und Glossen in der taz einarbeitete, so wie er es auch mit Wolfgang Neuss machte. Na ja, es war keine einseitige Abschöpfung, wir benutzten natürlich auch die Geistesblitze und Lesefrüchte der anderen für unsere März-Arbeit. Höge und Povl kamen so oft, dass uns manchmal der Zucker ausging – Helmut nahm als Kiffer immer sechs Würfel –, dann meinte er traurig: „Ach, is nich schlümm!“ Das sagte er immer, wenn ihn etwas besonders schlimm ankam. Wirklich schlimm war, dass der Kerl sich zu Hause vor jeder Arbeit drückte, uns aber seine Hilfe aufdrängte. Er wuchtete Holzklötze aus der Scheune in den Heizungskeller oder karrte Pflasterstein-Reste, die im Hof lagen, mit unserem Traktor zur alten Scheune runter, während wir im Verlag arbeiteten. Er machte das alles ungefragt. Manchmal rief seine Freundin Heike an, weil sie das Auto brauchte, um mit der kranken Sarah zum Arzt zu fahren, und beklagte sich bei Barbara: „Wir leben in Wohnfeld auf einer Baustelle, und Helmut ist ständig bei euch!“ – „Wir finden es ja auch scheiße, dass er dir nicht hilft“, stimmte Barbara ihr zu, „aber wir sind nicht schuld, er lässt sich nicht abhalten. Und wenn wir ihm sagen: ‚Mensch, Helmut, Heike und Povl sind sauer, das ist uns unangenehm‘, sagt er nur: ‚Ach, is nich schlümm!‘ “ Da war er rücksichtslos, er wollte mit uns quatschen, das gefiel ihm besser, als ein Badezimmer zu fliesen. Denn nach getaner Arbeit hörte er sich Barbaras Geschichten aus dem Vogelsberg an und meine Erzählungen über die Figuren aus dem Kulturbetrieb.
Die vierte taz-Geschichte sollte „Bleivergiftung“ heißen, war eine Fortsetzung meiner Schmähschriften gegen Reemtsma und gleichzeitig eine Polemik über Grenos und Enzensbergers Bibliofilie-Marketing mit der Anderen Bibliothek. Erinner dich an den Bleisatz und das Lesebändchen – die Lüge, die unten raushängt! Alle Magazine, Zeitungen und Fernsehkulturkanäle brachten ellenlange Berichte, die Branche stand damals Kopf, die Buchhändler wählten Greno zum Verlag des Jahres, jeder dachte: Der hat es geschafft! Denn da war ja das große Geld im Hintergrund, Reemtsma finanzierte alles. Schon bald zeigte sich auch hier die wahre Natur des Mäzens Jan Philipp Reemtsma, der sich bei literarischen, journalistischen und verlegerischen Unternehmen zunächst engagierte, wie zum Beispiel bei Hartmut Schulzes neuem Twen, Gremlizas Konkret oder Grenos Verlag. Doch dann ließ dieser Überbausadist die Projekte fallen wie heiße Kartoffeln. Ach was, Sadist, das klingt viel zu verrucht und geheimnisvoll! In Wirklichkeit ist er nur ein Philologe mit einer unglücklichen Liebe zur Literatur und einer glücklichen Hand als Anleger: Er vermehrt sein Kapital.
Obwohl die „Bleivergiftung“ fertig war, wollte ich Reemtsma nicht mehr so viel Ehre widerfahren lassen. Mir war klar geworden: Das ist nicht der Kulturtycoon, der sich anschickt, der geheime Kultusminister der Nation zu werden, und dabei dreihundert oder vierhundert Millionen verballert, sondern er ist nur das Opfer der Chromosomen seines Vaters Fürchtegott: ein Couponschneider. Nichts Originelles! Viele setzen ihre Sammelhobbys beim Finanzamt ab, wie etwa Friedrich Christian Flick als Kunstsammler. Für den Philologen Reemtsma ist es das Hamburger Institut für Sozialforschung. Und weil ich den Typ überschätzt hatte, beschloss ich, die Geschichte nicht zu veröffentlichen. Eine richtige Entscheidung, wie sich bald zeigte: Franz Greno ging 1987 baden.
Nicht alle Erzählungen habe ich also in der frühen taz veröffentlicht, aber alle Assoziationen, Informationen, jeder Klatsch und anderer Quatsch kamen dort. Die tageszeitung war noch nicht wie heute eine Zeitung für die grüne Mittelschicht, sondern ein kulturrevolutionäres Revolverblatt. Es war paradox: Meine Witze nahmen Warenform an, während meine eigentliche Ware, die März-Bücher, sich nur schleppend bewegte. Dabei erschienen im März Verlag die tollsten Titel: Die abgefahrene Comic-Lyrik von Joe Brainard, 1984, der Nachdruck von „Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer“. Es ist ja eine irre Geschichte, wie Charles Darwin in seinem verzweifelten viktorianischen Leben als Theoretiker der Menschenzucht sich zu den Regenwürmern flüchtete. Warum ich dieses vergessene Buch nachdruckte? Es war ja die große Zeit der Landkommunen, und alle redeten über biologisch-dynamischen Gartenbau. Also dachte ich mir: Ich mache das beste Buch zum Thema. Der Erfolg war mäßig, die Leute lasen jeden ökologischen Humbug, aber keinen Quellentext über die Entstehung des Humus. Und ich verlegte vergessene Werke der klassischen Moderne wie Kenneth Patchens „Schläfer erwacht“ oder Ralph Ellisons „Invisible Man“ – wahrscheinlich das bedeutendste Buch eines Afroamerikaners überhaupt. Nein, ich will mich nicht als Entdecker aufspielen, denn bereits 1954 wurde der Titel im S. Fischer Verlag veröffentlicht, geriet aber bald in Vergessenheit. Bei März erschien die Neuausgabe mit dem Titel „Unsichtbar“. Obwohl Ellison für unsere Ausgabe ein langes Nachwort über die Entstehung seines Romans geschrieben hatte, blieb das Feuilleton stumm. Dementsprechend dünn war der Verkauf. Erst ein Jahr nach dem Tode Ralph Ellisons im Jahr 1994 druckte der Zürcher Ammann Verlag das Buch zum zweiten Mal nach. Jetzt überschlug sich das Feuilleton und erzählte den Lesern: „Verwunderlich, dass es bisher keine deutsche Übersetzung dieses Klassikers gab.“ Zig Riemen habe ich inzwischen darüber gelesen, von taz bis FAZ, überall stand derselbe Mumpitz! Da bleibt mir nur noch die Frage: Würdest du von solchen Kritikern ein gebrauchtes Buch kaufen? Ach, Schluss mit dem Gemecker über Zeilenproduzenten und Rezensentenflaschen! Ich teilte damals, Anfang der Achtziger, das Leben in die übliche Verlagsarbeit und die Produktion von Erzählungen, war manchmal Hase und manchmal Igel: „Disse Geschicht is lögenhaft to vertellen, Jungens, aver wahr is se doch, denn mien Grootvader, von den ick se hew, plegg jümmer, wenn he se mie vortüerde, dabi to seggen:
‚Wahr mutt se doch sien, mien Söhn, anners kunn man se jo nich vertellen.‘ “ Nach diesem Motto wurde erzählt. Im großen Zimmer des Erdgeschosses saßen Barbara und ich in den Samtsesseln aus Florstädter Schlossbeständen, tranken Wein oder Cognac, zusätzlich nahm ich noch Cafaspin – ein Aspirin mit Koffein – zur Blutverdünnung und Anregung. Povl hockte links von mir auf dem Louis-Philippe-Streifensofa, kiffte und bediente das Tonband. Zu meiner Rechten, neben dem Kachelofen, kauerte Helmut vor dem braunen Chintzsofa auf dem Teppich. Vielleicht hätte er auch gern auf dem Sofa gesessen, aber dort lag Marron. Weil der Hund merkte, dass er von Höge geliebt wurde, dehnte er sich frech auf den Polstern. „Och, is nich schlümm! Der Hund muss ja bequem liegen!“ So war Helmut – tierlieb.
Höge kiffte und lachte meckernd, machte also seinem Namen alle Ehre, denn „högen“ heißt im norddeutschen Dialekt: sich amüsieren. Dabei schrieb er wie ein Wilder in sein Ringbuch, obwohl doch das Band lief. Und wenn Helmut im Hause gewesen war, fehlten nicht nur sämtliche Feuerzeuge, die steckte er so ein wie unsere Geschichten. Das waren die Döneken von Barbara und mir, mit denen Helmut sein halbes Vogelsberg-Buch füllte. Sein zweites Werk ließ er dann ungefragt unter dem Logo „Bismarc Media“ erscheinen – meiner Agentur, die ich 1970 gegründet und die nur einen Geschäftszweck hatte: kryptisch herumzuschwafeln und sonst nichts Sichtbares zu leisten. Aber an Abschöpfung dachte ich damals noch nicht. Mir kam das alles eher wie eine paradiesische Produktionsweise vor, bei der sich keiner um das Urheberrecht an einer Idee kümmert. Und entsprechend wirkungsvoll waren auch die Resultate dieser Sessions, weil wir uns nicht gegenseitig belauerten: Was stammt von wem? Wer hat das gesagt? Welche Idee ist von diesem und welche von jenem? Für eine Weile entstand so ein diskursives Klima in der taz, wir hielten uns an Paul Valérys Diktum: „Eine Sicht der Dinge, die nicht befremdet, ist falsch.“