: Eine tödliche Krankheit
Vor zwanzig Jahren wurde das Aidsvirus zum ersten Mal beschrieben. Heute kann zwar mit neuen Medikamenten das Sterben hinausgezögert werden, aber ein wirksames Gegenmittel gibt es nicht
VON GUDRUN FISCHER
Aids ist in westlichen, reichen Ländern nicht mehr die fatale, meist nach wenigen Jahren tödlich verlaufende Krankheit wie das noch Mitte der 90er-Jahre der Fall war. Gerade seit 1996 ist viel passiert – fast schon eine Art „Normalisierung“ ist eingetreten. Im Gegensatz zu armen Ländern gilt in Deutschland heute eine HIV-Infektion als chronische Krankheit. Aber sie hat auch hier nach wie vor ein tödliches Ende.
Ist das Virus erst im Körper, gibt es noch kein Medikament, das es wieder vollständig entfernt. Immer noch sterben in Deutschland etwa 600 Menschen im Jahr, 2.000 infizieren sich jährlich neu und das Vollbild Aids entwickelt sich hier jährlich bei 700 Menschen. Das ist eine niedrige Zahl im Vergleich zu den 14.000 täglichen Neuinfektionen weltweit. Für die Länder im Süden mit ihren katastrophalen Aidsraten wäre ein Impfstoff, den es immer noch nicht gibt, ein unglaublicher Durchbruch. Doch auch eine effiziente Medikamentenversorgung würde helfen. Inzwischen liegt die Überlebensprognose in den Industrienationen bei 18 bis 20 Jahren nach der Infektion.
Aids ist zwar immer noch der Überbegriff, HIV-positive Menschen werden aber heutzutage „HIV-krank“ genannt. Denn Aids ist der Name für das Vollbild dieser durch HIV-1 (seltener in Deutschland ist die HIV-2-Variante) hervorgerufenen Immunschwächung.
Die aktuellen Zahlen für Deutschland belegen, dass sich die Warnungen aus den 80er-Jahren vor einer Epidemie nicht bewahrheitet haben: In Deutschland leben heute zirka 40.000 Menschen mit dem Virus, etwa 5.000 von ihnen sind aidskrank. 20.000 Menschen sind bereits an Aids gestorben. 40 bis 50 Prozent der Neuinfektionen sind auf sexuelle Kontakte zwischen Männer zurückzuführen. 26 Prozent der Infektionen in Deutschland haben ihren Ursprung bei Menschen aus so genannten Hochprävalenzländern, also den Ländern, wo HIV sehr weit verbreitet ist. Rund ein Viertel der Positiven sind Frauen.
Die relativ günstige Entwicklung für Deutschland soll aber nicht den katastrophalen Beginn dieser Epidemie vergessen lassen. Nachdem 1981 die ersten rätselhaften, jedoch meist tödlich verlaufenden Erkrankungen von zuvor gesunden homosexuellen Männern aus den USA gemeldet werden, kommt ziemlich schnell raus, dass auch andere Gruppen betroffen sind: Empfänger von Blut, Drogensüchtige und Kinder von aidskranken Müttern können die Krankheit erwerben.
Schon 1982 ist klar, dass der Übertragungsweg sexuell, über die Blutbahnen, oder über die Geburt verläuft. 1983 wird das Virus isoliert, das für das Krankheitsbild Aids verantwortlich gemacht wird. Ab 1985 ist ein Test der HIV-Antikörper im Blut und somit der Nachweis der Infektion möglich. Erst 1985 wird publik, dass auch beim heterosexuellen Sex das Virus weiterwandert. Seit 1985 wird das Blut von BlutspenderInnen auf HIV-1 untersucht; seit 1989 auch auf HIV-2. Erst 1987 kommt das erste Medikament gegen den Virus auf dem Markt. Es heißt AZT.
„Es wurde damals noch in furchtbar hohen Dosen verabreicht, täglich zwischen 1.000 und 1.200 mg“, erklärt Sigrid Weber, Internistin und Aids-Schwerpunktärztin in Bremen. Heute wird AZT in einer täglichen Dosis von höchstens 600 mg verabreicht. „Von meinen AidspatientInnen der ersten Stunde hat niemand überlebt,“ berichtet die Ärztin und gibt zu, dass sehr viel falsch gemacht worden ist. Doch die Krankheit war neu, es gab keine anderen Medikamente und es mussten Erfahrungen gesammelt werden. Immerhin sanken durch AZT-Gaben die Infektionsrate von Kindern HIV-positiver Mütter auf zwei Prozent. Heute ist in Deutschland ein HIV-Test für jede Schwangere Pflicht.
Anfang der 90er-Jahre kamen neue Medikamente aus der Gruppe des AZT hinzu, die schon wesentlich bessere Therapieerfolge zeigten. Seit 1995 ist es möglich, die Viruslast zu bestimmen und die Zahl der T-4-Helferzellen im Blut. Damit können Infizierte den Immunstatus bestimmen lassen – das ist zur Überwachung, ob die Medikamente wirken, nötig. Erst 1996 kam der große Durchbruch mit der Medikamentengruppe der Proteasehemmer (PI). Seitdem gibt es die HAART, die hocheffiziente antivirale Therapie, die verschiedene Mittel kombiniert.
Mit den neuen „Aids-Cocktails“ sank die Aids-Sterberate weiter ab. Und noch eine Verbesserung in der Medikamententherapie kam hinzu: Die Tablettenzahl konnte verringert werden. Die meisten HIV-Patienten nehmen nur noch drei bis fünf Tabletten täglich, selten sind es über zehn. Die Medikamentenwirksamkeit wird verstärkt, indem andere Tabletten dazugegeben werden. Der Fachausdruck dafür ist „boosten“.
Nach 20 Jahren HI-Virus und zunehmend mehr Langzeitüberlebenden, kämpfen HIV-Positive und die Medizin heute mit den Langzeitnebenwirkungen der Medikamente. Die Lipodistrophie ist eine Fettumverteilungsstörung, die zu dünnen Beinen und Armen, ausgezehrten Gesichtszügen und Fetteinlagerungen um die Organe im Bauchraum, in der Brust und im Nacken führt. Sie ist eine der sichtbarsten Nebenwirkungen, unter denen PatientInnen besonders leiden. Sie trat seit 1999 verstärkt auf und inzwischen werden gesichtschirurgische OPs von Krankenkassen gezahlt. Auch Herzerkrankungen nehmen zu. Außerdem wird beobachtet, dass Analkarzinome und auch Lymphome zunehmen. Diese Langzeitnebenwirkungen sollen durch immer wieder neue und bessere Medikamente verhindert werden.
Eine brandneue Medikamentengruppe sind die Fusionshemmer, die seit März 2003 auf dem deutschen Markt zugelassen sind. Sie greifen dort an, wo das Virus sich an die Wirtszelle, zum Beispiel eine T-4-Helferzelle im Blut, andocken will. Da Fusionshemmer nicht erst in der angegriffenen Zelle wirken, ist die Hoffnung, dass das Medikament weniger Nebenwirkungen hat als die anderen Medikamentengruppen. Doch das Problem bei den Fusionshemmern ist – noch – dass dieses Medikament gespritzt werden muss. Dort wo die Injektion appliziert wird, entstehen große Flächen, die sich verhärten. Daher wird dieses neue Mittel eher den PatientInnen verschrieben, die gegen andere Medikamente Resistenzen gebildet haben, die gewissermaßen „austherapiert“ sind. „Die Salvage-(Rettungs)-Therapie“ ist die Therapie, die erfolgt, wenn ich nicht mehr weiß, womit ich die Patientin oder den Patienten noch behandeln soll“, erläutert Sigrid Weber. Demnächst sollen Fusionshemmer in Tablettenform auf den Markt kommen.
Tablettenpausen werden von vielen Ärztinnen und Ärzten nicht empfohlen, trotzdem sind viele PatientInnen heute froh, diese Möglichkeit zu haben. Die Pausen bedeuten Urlaub vom Einnahmezwang und den Nebenwirkungen. Doch Medikamente oder Pausen sind nur ein Baustein in der Aids-Geschichte. Wichtig war und ist die Prophylaxe. In diesem Bereich scheinen Warnungen wieder angebracht.
In den letzten Monaten wurden in Westeuropa vermehrt sexuell übertragbare Krankheiten wie Syphilis gemeldet. Auch die HIV-Infektionsrate bei jungen Schwulen nimmt zu, beklagen Schwulenverbände. Trotzdem gilt immer noch: HIV-Infizierte sind eine bestens informierte Patientinnen- und Patientengruppe. Aber am schlechtesten informiert seien Frauen, bemängelt Sigrid Weber.