: „Kinder werden für die Wut benutzt“
STEREOTYPE Der neue Antisemitismus in Deutschland verbreitet sich unter Jugendlichen – auch nichtmuslimischen. Ein Gespräch mit Levi Salomon von der Jüdischen Gemeinde Berlin
■ 50 Jahre, stammt aus Baku im heutigen Aserbaidschan. Er wuchs in einer Rabbinerfamilie auf und studierte Regie und Bildungsarbeit. 1991 kam er nach Berlin. Seit 2008 ist er Beauftragter für die Bekämpfung des Antisemitismus der Jüdischen Gemeinde Berlin.
INTERVIEW CIGDEM AKYOL
taz: Herr Salomon, am Wochenende wurde der Befreiung der Konzentrationslager gedacht – im Januar wurden auf deutschen Straßen Plakate getragen, welche die Politik des Staates Israel mit der des Nationalsozialismus gleichsetzten. Wie passt so etwas zusammen?
Levi Salomon: Als dieser Antisemitismus in Berlin ausgebrochen ist, war ich fassungslos. Ich hätte nie gedacht, in Deutschland wieder judenfeindliche Chöre zu hören und ich hatte Angst – denn das darf nicht sein. Ich wusste nicht, ob ich es nach Hause schaffe. Es waren massenweise Islamisten unterwegs und ich habe viel mehr Drohmails bekommen als sonst. Ständig habe ich mich gefragt, wo eigentlich die Zivilgesellschaft ist?
Aber die Polizei war anwesend. So entfernten Beamte in Duisburg eine Israelflagge, um muslimische Demonstranten nicht zu provozieren …
… ja, aber die konnte nicht einschreiten, weil Antisemitismus keine Straftat im Sinne des Strafgesetzbuchs ist. Die Polizei hat dem Mob nachgegeben und das war katastrophal. Was aber noch bemerkenswerter war: Bei den Demonstrationen im Januar beteiligten sich überwiegend junge Migranten, die Kinder für ihre Wut benutzten.
Inwiefern?
Es ist ein so schwerer Konflikt – viele Wissenschaftler, Politiker und Historiker streiten über eine Lösung und dann werden Kinder instrumentalisiert. Kinder demonstrierten mit ihren Eltern, hielten Plakate mit der Aufschrift „Kindermörder Israel“. In einem Internetforum wurde sogar empfohlen, für Sprechchöre kleine, strafunmündige Mädchen einzusetzen.
Mit welchem Ziel?
Der Opfermythos wird ausgenutzt. Denn wenn Kinder verletzt werden, ist es immer besonders schlimm und natürlich besonders abscheulich. Deswegen werden auch die Schwächsten vorgeschoben. Man darf aber die politische Instrumentalisierung dahinter, die Israels Politik dämonisiert, nicht vergessen.
Eine Studie und Berichte der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zeigen, dass Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen in Deutschland keine Randerscheinung ist. Dennoch wird dieses Phänomen von der Politik kaum beachtet. Warum?
Das ist bedauerlich, denn es ist ja nicht neu. Die genannte Studie hat sich nur an einer Stelle mit Muslimen und Antisemitismus beschäftigt. Deswegen fordern wir eine fundierte Untersuchung, die sich mit dem Thema auseinandersetzt. So lange wir keine ganz genauen Angaben haben, können wir auch nicht gezielt vorgehen. Ein anderes Problem ist die Pauschalisierung. Rassismus und Antisemitismus werden häufig zusammen behandelt. Aber wenn die Bundesregierung gegen Fremdenfeindlichkeit kämpft, dann geht sie nicht gegen Antisemitismus vor. Das sind zwei ganz unterschiedliche Phänomene.
Woher kommt die Judenfeindlichkeit unter Migranten?
Die Menschen islamischen Glaubens in Deutschland kommen ja aus unterschiedlichen Ländern, und man darf auch hier nicht pauschalisieren – nicht alle Muslime sind Antisemiten. Aber diejenigen, die zu Judenfeindschaft neigen, stammen mehrheitlich aus den palästinensischen Gebieten, sind Araber aus anderen Ländern wie dem Libanon. Immer mehr kommen auch türkische Jugendliche dazu. Ein neues Phänomen sind die Muslime, die sich solidarisieren, nach dem Motto: Ich bin ein Muslim, ich muss zu meinen Glaubensbrüdern halten. Was mich persönlich besonders beunruhigt, sind deutsche nichtmuslimische Jugendliche, die es anderen jetzt nachplappern. Diese Tendenz ist verstärkt zu beobachten.
Reden die jungen Leute einfach nach, ohne genau zu wissen, was dahinter steckt?
Teilweise, dennoch sind sie verantwortlich für ihr Tun, und das muss man ihnen bewusst machen. Man darf bei diesen jungen Menschen nicht aufgeben, man kann noch auf sie einwirken.
Was macht die Jugend anfällig für Stereotype und Hass?
Ich denke, der stärkste Katalysator befindet sich in den Familien, denn sie haben den größten Einfluss auf die Jugendlichen. Ein Problem sind die Medien, nämlich al-Manar, al-Dschasira und andere arabische oder türkische Sender. Dort wird der Nahostkonflikt sehr einseitig dargestellt, und Israel ist immer schuldig. Selbstkritik gibt es keine, und die Jugendlichen werden indoktriniert. Die muslimische öffentliche Meinung wird medial aus einer Kombination von Lügen, Klischees und Verschwörungstheorien über Juden genährt – so kann man sich keine sachliche Meinung aneignen. Außerdem wird im Schulunterricht nicht ausführlich genug über den Holocaust aufgeklärt.
Einige muslimische Jugendliche vermischen ihre Israelkritik mit antisemitischen Stereotypen. Was sagt das aus über Deutschland und seine Einwanderer?
An Israel wird häufig ein anderer Standard angelegt als an alle anderen Staaten. Und dies machen nicht nur „muslimische Jugendliche“. Das Problem ist doch, dass der neue Antisemitismus oft im Gewand des Antizionismus daherkommt. Was die muslimische Jugend betrifft: Jahrzehntelang hat sich Deutschland nicht als Einwanderungsland gesehen und deshalb keine vernünftigen Integrationsprogramme entwickelt. Nun stellen wir fest, dass oft gerade die Jüngeren mit migrantischem Hintergrund, die ja in der Regel einen deutschen Pass haben, sich für eine muslimische Identität starkmachen, worunter sie leider oft auch „gegen Juden sein“ verstehen.
Schützt Deutschland auf Kosten seiner eigenen Toleranz antisemitische Muslime?
Ja, aus falsch verstandener Toleranz und Angst vor dem Rassismusvorwurf sind die Deutschen tolerant gegenüber den Intoleranten. Wir dürfen uns aber aus Sorge, als Fremdenfeind beschimpft zu werden, nicht zurückhalten. Wenn wir mit den Muslimen nicht auf Augenhöhe wie mit der Mehrheitsgesellschaft sprechen, dann fühlen diese sich minderwertig; es ist sogar rassistisch. Gegenüber Muslimen müssen wir die gleichen Maßstäbe ansetzen, wie an den Rest der Gesellschaft.
Der umstrittene Islamwissenschaftler Tariq Ramadan wehrt sich gegen den Begriff „islamisch-arabischer Antisemitismus. „Das ist Islamphobie und im Prinzip nichts anderes als Antisemitismus“, sagt Ramadan. Auch der Historiker Wolfgang Benz nennt Antisemitismus und Islamophobie in einem Atemzug. Zu Recht?
■ Studie: In der Studie „Muslime in Deutschland“ des Bundesinnenministeriums (2007) wurden 500 muslimische Schüler zu antisemitischen Ressentiments befragt. Der Aussage „Menschen jüdischen Glaubens sind überheblich und geldgierig“ stimmten 15,7 Prozent der Befragten zu. Im Vergleich: Bei nichtmuslimischen Zuwanderern lag die Quote bei 7,4 Prozent. Bei den Deutschstämmigen waren es 5,4 Prozent. 39,2 Prozent der befragten fundamentalistischen Muslime zeigten antisemitische Überzeugungen, aber nur 11,6 Prozent der gering religiösen Muslime. Demnach sind potenziell radikalisiert: Bildungsferne – und eine kleine Gruppe Gutausgebildeter.
Islamophobie und Antisemitismus kann und darf man nicht vergleichen. Zwar gibt es Feindseligkeiten gegenüber Muslimen in Deutschland, das ist ein Teil von Rassismus. Der lang andauernde Antisemitismus ist etwas anderes; und es geht hier nicht um Opferkonkurrenz. Niemand propagiert eine systematische Feindschaft gegen den Islam an sich. Die Gleichsetzung ist weder historisch haltbar noch politisch sinnvoll.
Dennoch werden sie miteinander verglichen …
… und das ist eine Gefahr. Der Antisemitismus in Deutschland führte zum Holocaust, das ist ein Trauma, mit dem keiner etwas zu tun haben will. Durch eine Gleichsetzung bekommen die Vertreter des Modells Islamophobie eine starke Waffe gegen Kritiker an die Hand. Es gibt einen neuen Antisemitismus, der aus einer gefährlichen Mischung besteht: Aus einer antisemitischen Tendenz in der deutschen Linken, die Israels Politik dämonisiert und behauptet, die Juden seien nun zu Tätern geworden. Und aus politischem Islamismus. Diese Kreise scheinen bei den Demos im Januar zusammengefunden zu haben.
Denken Sie, dass der Islam eine begrenzt tolerante Religion ist?
Auf keinen Fall; hier muss ich den Islam in Schutz nehmen. Noch einmal: Es ist nicht die Religion an sich, sondern es sind die Fundamentalisten, die den Koran buchstäblich auslegen und den Glauben für ihre politischen Ziele instrumentalisieren. Davon bin ich felsenfest überzeugt.