: Gogol als Identitätsstifter
Im Niemandsland der Welten und Kulturen, irgendwo zwischen Indien, den USA und der russischen Literatur: Die Pulitzer-Preisträgerin Jhumpa Lahiri verwandelt in ihrem gelungenen neuen Roman „Der Namensvetter“ die ganze Schwere des Daseins in einen Zustand der schwebenden Melancholie
VON KATHARINA GRANZIN
Die schlimmsten Dinge werden Kindern häufig von ihren Eltern angetan, wozu auch die Namensgebung gehören kann. Die USA sind ein freies Land, und nichts hindert Ashoke Ganguli, Vater des Protagonisten in Jhumpa Lahiris erstem Roman „Der Namensvetter“, seinem Erstgeborenen den Rufnamen „Gogol“ zu geben. Gogol Ganguli also heißt unser Held, was fast ebenso lächerlich alliteriert wie „Akaki Akakjewitsch“, Hauptfigur in Nikolai Gogols Novelle „Der Mantel“. Doch die Verbindung Gogols mit seinem berühmten Namensvetter ist nicht von tragikomischer, sondern eher von melodramatischer Art, war es doch die Gogol-Lektüre, die seinem Vater einst das Leben rettete. Dem jungen Gogol aber wird sein Name zum Fluch. In den USA als Sohn indischer Eltern geboren, ist er weder Inder noch Amerikaner, sondern ein fremdes Drittes, existenziell unbehaust wie der seines Mantels beraubte Akaki Akakjewitsch.
Das ist Jhumpa Lahiris großes Thema. Die Amerikanerin, die 1967 als Tochter bengalischer Eltern in London geboren wurde, erhielt 1999 für ihre Kurzgeschichten „Melancholie der Ankunft“ als bisher jüngste Autorin den Pulitzer-Preis für Literatur. Lahiri tut, oberflächlich betrachtet, nichts anderes als ihre vielen indischstämmigen Landsleute, die die Fremdheit zwischen zwei Kulturen zum literarischen Thema machen. Doch ist ihr dieses Niemandsland zwischen den Welten lediglich ein möglicher Schauplatz für das Drama der menschlichen Existenz. In „Melancholie der Ankunft“ spielte sie das in brillanten kleinen Miniaturen durch, Einaktern sozusagen, die kammerspielartig die Beziehungen zwischen ihren Figuren ausleuchten.
Erzählend umkreist Lahiri das Thema der Fremdheit, die vor allem eine Fremdheit der Menschen voreinander ist und eine existenzielle Einsamkeit bedingt, die manche mehr spüren als andere, mit der aber jeder irgendwie fertig werden muss. „Der Namensvetter“ variiert dieses Thema in für Lahiri neuer epischer Breite. Die Exposition gerät dabei etwas weitschweifig und geriert sich mitunter wie ein Volkshochschulkurs über bengalische Kultur und Sitten, etwa in der Schilderung von Heiratsgepflogenheiten (arrangierte Ehen) und Namensgebung (kompliziert). Doch dann verstummt die Fremdenführerin endlich in ihrem Vortrag, um in einer ganz intimen, eigenartigen Szene zu versinken, in der Gogols Mutter, als sie noch nicht Gogols Mutter ist, vor dem ersten Treffen mit ihrem künftigen Ehemann heimlich in dessen Schuhe steigt: „Schweiß von den Füßen des Besitzers mischte sich mit ihrem, und ihr Herz klopfte heftig; noch nie hatte sie etwas erlebt, was der Berührung eines Mannes näher gekommen wäre. Das dicke, zerfurchte Leder war noch warm. Am linken Schuh hatte der Schnürsenkel auf seinem Zickzackweg ein Loch ausgelassen, ein Versehen, das ihr die Befangenheit nahm.“
Angekommen in Lahiri-Land. Scheinbar beiläufig skizziert Lahiri Personen und ihre Beziehungen anhand der Dinge, die sie umgeben. Eindrückliche Charakterskizzen gelingen ihr auf diese implizite Weise, die gleichzeitig dem Menschen seinen Platz in der Welt zuweist: ein flüchtiges, sterbliches Wesen, das kommt und geht, während die Dinge überdauern. Als Gogols Vater stirbt, wird der Tod vor allem dadurch manifest, dass Gogol die Alltagsgegenstände entsorgt, die der Vater hinterlässt. Häuser und Wohnungen, insbesondere jene, die Gogol mit seinen jeweiligen Lebensgefährtinnen teilt, nehmen ein großes erzählerisches Eigenleben an, das den Protagonisten zum Mann ohne Eigenschaften verblassen lässt. So bleibt er, von der Ehefrau verlassen, wortwörtlich unbehaust zurück, als auch noch sein Elternhaus verkauft wird. Doch endet dieser vorläufige, nach hinten offene Entwicklungsroman für ihn zumindest mit der Aussicht, eine eigene Identität zu finden: mit Hilfe der, man ahnt es, Lektüre Gogols.
In unbedarften Händen könnte all diese Symbolik schnell zum erzählerischen Korsett erstarren. Doch Lahiri verwandelt sie in leicht erzähltes Leben. Die ganze Schwere des Daseins erhebt sie in einen Zustand der schwebenden Melancholie, der vielleicht die einzige Antwort auf alle Fragen ist. Ausgerechnet Gogols Mutter Ashima, die nie ein selbstbestimmtes Leben für sich beansprucht hat, löst sich am Ende von der Herrschaft der Dinge und richtet sich in einer Existenz zwischen ihren zwei Welten ein. Allein, aber frei. Immerhin: eine Möglichkeit.
Jhumpa Lahiri: „Der Namensvetter“. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Heller. Blessing, München 2003, 350 Seiten, 18 €