: Die Glückliche
AUS MÜNCHENMARCO EISENACK
Regen war vorausgesagt, für den letzten Samstag im Oktober. Jetzt scheint die Sonne in das Gesicht der kleinen Frau. „Ein Zeichen von Allah!“, ruft Hülya Kandemir über den Münchner Marienplatz. Verwundert gucken Passanten mit Einkaufstüten in der Hand auf die Frau unter dem grünen Schleiergewand. „Muslime gegen Terror und Gewalt“ steht auf einem Tuch über der kleinen Bühne geschrieben. Der Oberbürgermeister hat schon gesprochen, die Kirchen schickten Vertreter, der Chef des Islamischen Zentrums hielt eine Rede, und Rapper Ammar versuchte, den Münchnern die Gemeinsamkeiten von Bibel und Koran in Reimform zu vermitteln. Und alle waren sich einig: Endlich findet sie statt, die öffentliche Distanzierung der Muslime vom islamistischen Terror. Organisiert hat diese Veranstaltung ausgerechnet die ehemalige Liedermacherin Hülya, die erst vor drei Monaten eine praktizierende Muslima wurde.
„Ich weiß nicht, warum es niemand vor mir gemacht hat. Es fehlte wohl einfach ein Zünder“, sagt die 29-Jährige am Rande dieser Kundgebung. Zum Anzünden braucht man Energie, und die hat Hülya. Davon konnten sich Besucher ihrer Konzerte überzeugen – als sie noch welche gab. Vor wenigen Wochen hat sie beschlossen, ihre Karriere aufzugeben und sich lieber dem Islam zu widmen. Geld will sie als Bedienung in einem türkischen Restaurant verdienen.
Schon seit längerem hatten die Fans das Ringen der Sängerin gespürt, die sich von Pop-Rock immer weiter entfernte und immer mehr der türkischen Folklore näherte. Zu ihrem letzten Konzert im ehemaligen Schlachthof in München hatte sie mit dem Vermerk „Nur für Frauen!!!“ eingeladen. Wie eine Tracy Chapman mit Kopftuch sitzt sie den ganzen Abend auf der Bühne auf einem Barhocker. Der Gesang des Publikums klingt etwas dünn, als Hülya ihre Fans bittet, in den Refrain zu ihrem neuen, ihrem letzten Lied „Hay“ einzustimmen. Nach ein paar Versuchen winkt sie ab und singt mit einer Stimme, die viel zu kraftvoll scheint für sie: „Haaaay!“ – „Das ist Arabisch und bedeutet ‚lebendig‘“, erklärt sie dann und zupft ihren Schleier zurecht, aus dem eine dunkle Locke hervorgerutscht war.
Seit August trägt sie das enge Kopftuch, wenn sie das Haus verlässt. Dieses Tuch ist die eine Konsequenz aus ihrem neu entdeckten Glauben, der Abschied von der Karriere eine weitere. „Im Koran steht nirgends, ich dürfte nicht vor Männern singen, aber ich fühle mich besser, wenn ich es lasse“, erklärt Hülya dann im Anschluss an ihr Konzert. Sie ist von der Bühne gestiegen, um mit den Konzertbesuchern über ihre Entscheidung zu diskutieren. „Ich glaube, dass Frauen auf der Bühne Neid und Eifersucht beim Publikum erzeugen“, sagt sie. Da helfe auch ein Schleier nichts. Eigentlich will sie wohl sagen, dass Männer nur an Sex denken, wenn sie eine Frau auf der Bühne sehen.
Entrüstung beim Publikum. Ein grauhaariger Lehrer, der sich mit einigen Jugendlichen im Gefolge dem Wunsch Hülyas widersetzt hat, nur vor Frauen zu spielen, schimpft: „Ich bezweifle, dass das mit unserer Verfassung vereinbar ist!“ Dann steht er auf und marschiert mit seinen Schülern zum Ausgang. Die Atmosphäre ist vergiftet – nicht nur hier im Saal. Beschimpfungen auf der Straße häufen sich. „Du Fundamentalist, raus aus meinem Land!“, habe ihr erst kürzlich eine Frau zugerufen, erzählt Hülya.
Als sie ein paar Tage später durch die Stuhlreihen eines Straßencafés schreitet, lässt die Sonne das Weiß ihres Umhangs leuchten. Sie kommt zu spät, hatte den Verkehr auf dem Weg von der Moschee in die Innenstadt unterschätzt. Sie will noch einmal ihren Abschied von der Bühne verständlich machen. „Das Musikgeschäft ist mir zu schmutzig“, sagt sie. In der Gesellschaft drehe sich sowieso schon viel um Sex und Besitz, im Showbusiness gehe es um gar nichts anderes mehr. „Das erträgt doch keiner lange ohne Drogen!“, sagt sie bestimmt. Sie wisse sehr wohl, wovon sie spreche, schließlich stand sie schon im Vorprogramm von Joan Baez, Natalie Cole und Bonnie Tyler auf der Bühne. Man hat das Gefühl, Hülya kann immer noch nicht glauben, was sie getan hat. „Ich war genau an dem Punkt, den ich immer erreichen wollte“, sagt sie lachend.
Schon früh wurde ihr Talent erkannt. Ein Produzent überredete sie mit sechzehn, die Schule abzubrechen und zu singen. Seitdem lebte sie von der Musik, machte drei CDs und bekam zahlreiche Angebote von Majorlabels und Produzenten. Meist lehnte sie ab, weil sie ahnte, dabei nicht ihr Ding machen zu können. Und dann sagt sie: „Wenn ich gewollt hätte, wäre ich schon längst reich und berühmt. Aber ich hätte dafür meine Seele verkaufen müssen.“ Und dann kam eben auch noch Allah dazu.
Es hatte nach dem 11. September 2001 begonnen. In ihrer Familie hatte sie den Koran nie richtig kennen gelernt. „Bei uns daheim wurde Ramadan eher aus Tradition gefeiert als aufgrund der Religion.“ Ihre Mutter trägt kein Kopftuch und kann die Entscheidung ihrer Tochter nicht ganz nachvollziehen. „Die hätte mich lieber im Fernsehen gesehen.“ Auch ihre Brüder verstehen den Entschluss der Schwester nicht.
Hülya bricht mit vielen Klischees: Sie hat keine Koranschule besucht, hatte kein autoritäres Elternhaus, und es gibt auch keinen dominanten Mann, der sie unter das Kopftuch zwingt. Sie lebt allein, und ganz allein habe sie sich über Jahre dem Islam genähert. Erst fastete sie nur, dann begann sie fünf mal täglich zu beten. Und diesen Sommer „bedeckte“ sie sich, wie sie es nennt. Jetzt achtet sie akribisch darauf, dass kein Haar unter dem weißen Tuch hervorschaut, Ohren und Hals verhüllt sind und ihr Körper keine Rundungen preisgibt. Als sie das erste Mal auf die Straße ging, habe sie Mut gebraucht. „So ein Ding auf dem Kopf ist natürlich schon total komisch“, sagt sie und muss lachen.
Für ihre Fans war es ein Schock. Das Gästebuch auf ihrer Homepage zeigt, dass ihr Wunsch nach Toleranz viele überfordert. „Mir ist jedenfalls die Lust vergangen, ihre CDs zu hören“, schreibt ein Fan. „Vera“ verbreitet im Gästebuch den Aufruf „Runter mit dem Kopftuch!“, denn das Kopftuch sei das „Symbol schlimmster sexistischer Repression“. Einer hinterlässt antiislamische Hetze. Aber es gibt auch viel Unterstützung. Vor allem von ihren „Schwestern“, wie Hülya die Muslimas nennt. Sie ist auf dem besten Weg, das Symbol einer Bewegung zu werden, die die zweite Generation der türkischen Gastarbeiter erfasst hat. Immer mehr junge Türken bekennen sich zu einem Glauben, den sie im Elternhaus oft nur noch rudimentär erlebt haben. Mädchen binden sich Kopftücher um, junge Männer gehen in die Moschee statt in die Disco.
Bei dem Abschiedskonzert waren gut die Hälfte des Publikums junge Frauen türkischer Abstammung. Auch wenn fast alle unverschleiert sind, unterstützten sie Hülyas Entschluss. Sätze wie „Ich selbst fühle mich nur noch nicht reif genug“ fielen während der Diskussion mehr als einmal. „Der 11. September hat bewirkt, dass wir anfingen, uns mit dem Islam auseinander zu setzen“, sagte Jasmin. Sie war eine von zwei Kopftuchträgerinnen auf dem Abschiedskonzert.
Jasmin ist 22 Jahre alt und optisch das Gegenteil der zerbrechlich wirkenden Hülya. Ihr roter Hosenanzug und das kunstvoll gebundene schwarze Tuch unterstreichen ihre dominante Erscheinung. Keine Spur vom schüchternen Mädchen. Noch bevor sie ihren heutigen Mann kennen lernte, entschied sich Jasmin für das Kopftuch. In dem türkischen Friseursalon, in dem sie arbeitete, war es nicht erlaubt, aber seit sie in Mutterschaft ist, trägt sie das Tuch. Ihr Mann habe damit nichts zu tun, betonte Jasmin.
Im Café redet Hülya weiter über das Tuch. Es scheint für sie sogar ein Akt der Befreiung zu sein: „Das mit dem Kopftuch war nicht geplant. Eines Abends während des Gebets band ich mir einfach einen Schal um und spürte plötzlich ein unbeschreibliches Glück.“ Am nächsten Tag habe sie sich dann „bedeckt“ und seitdem sei sie „so glücklich wie nie zuvor“.
Das eigene Erleben steht für Hülya auch im völligen Widerspruch zum „Klischeebild“ der unterdrückten Muslima. Sie fühle sich im Islam als Frau viel wohler als in der westlichen Kultur, wo die Frau nur noch als Sexsymbol vermarktet werde. „Ich kenne aus dem Koran nur Ausdrücke, die für und nicht gegen die Frau sind. Im Koran steht: Das Tor zum Paradies liegt unter den Füßen der Mutter.“
Wenn Hülya versucht zu erklären, was sie am Islam so fasziniert, sagt sie immer wieder: „Es ist ein tolles Gefühl, seinen inneren Schweinehund zu besiegen.“ Etwa beim Fasten oder beim Beten in aller Frühe. Ja es stimmt, sie sei ehrgeizig und „sehr perfektionistisch“. Manchmal, wenn Sätze fallen wie „Ich will doch nur versuchen, meine Aufgaben so gut wie möglich zu erfüllen“, hat man das Gefühl, sie habe die Leidenschaft für einen neuen Sport entdeckt.
Nach der erfolgreichen Friedenskundgebung auf dem Marienplatz wurde die ehemalige Sängerin von den Münchner Muslimen beauftragt, den islamischen Beitrag zur Bundesgartenschau zu betreuen, die im kommenden Jahr in München-Riem stattfindet. So wird sie wohl auch in Zukunft gelegentlich auf Bühnen Funken versprühen, um Toleranz für ihre Form des Glaubens zu fördern. Blickte man in die verständnislosen Gesichter der Passanten bei der Kundgebung auf dem Marienplatz, wird es noch vieler zündender Funken bedürfen, um den Islam in der Gesellschaft fester zu verankern.