Bündnis will mageren Sozialstaat füttern

Das Bündnis soziale Bewegung NRW traf sich in Essen zum neuen Mut Schöpfen: Die Proteste gegen Sozialabbau sollen nicht bei Hartz IV stoppen. Eine Sozialcharta, Vermögenssteuer und Grundsicherung sind ihre Zukunftsmodelle

RUHR taz ■ Das „Bündnis soziale Bewegung NRW“ will den Sozialstaat wieder päppeln. Dienstagnachmittag diskutierten sich in der Essener Zeche Carl rund 200 VertreterInnen des Bündnisses unter dem Motto „Der Sozialstaat – ein Auslaufmodell?“. Von der Gewerkschaft Verdi Anfang des Jahres mit 30 Gruppen wie Attac und der Arbeiterwohlfahrt gegründet, war die Bewegung in NRW maßgeblich für die Montagsdemonstrationen und die Kölner Großdemo mit 100.000 TeilnehmerInnen im April verantwortlich. Dienstag blieb es eher bei einer Kopfgeburt: Eine NRW-weite Sozialcharta soll erstellt und den Parteien vor der Landtagswahl im Mai 2005 als „Prüfstein“ vorgelegt werden.

Dass nur noch über einen sterbenden Sozialstaat gesprochen werden kann, darüber waren sich alle Diskutanten einig. „Es geht nicht um Hartz IV oder andere Kürzungen, es entsteht gerade ein ganz neuer Staat“, sagte Christoph Butterwegge, Kölner Professor für Soziologie. Alle Grenzen für die Wirtschaft seien gefallen, jetzt werde ein europäischer Wirtschaftsraum entwickelt, der keine Rücksicht mehr auf Errungenschaften für die BürgerInnen nehmen müsse.

Für Butterwegge ist es aber nicht nur eine wirtschaftliche Revolution, auch der Ton und das Gefühl in den Betrieben und Städten sei anders. „Die neue Botschaft lautet: Jeder muss sehen, wo er bleibt.“ Schon im Kindergarten würden die Dreijährigen darauf gedrillt, immer die Besten sein zu müssen. „Aber auch die Globalisierungsgewinner wird das Klima der sozialen Kälte treffen“, prophezeit Butterwegge. Auch sie müssten dann in einer unsolidarischen Gesellschaft leben.

Butterweges Szenario ist düster: In wenigen Jahren werde die Kluft zwischen Arm und Reich dramatisch sein. „Am 1. Januar stoßen die Besserverdienenden mit Sekt auf die Senkung des Spitzensteuersatzes an, die Hartz-VerliererInnen haben Katerstimmung.“ Bald würden in den Städten Ghettos wachsen, wie sie in den USA schon jetzt existierten. An der Kleidung, am Gebiss, an der Sprache könne jeder in Zukunft die Herkunft seines Gegenübers ablesen.

Butterwegges Kollege von der Fachhochschule Bochum mit dem passenden Namen Norbert Wohlfahrt prophezeit auch nichts Gutes. Er unterscheidet zwischen dem Wirtschafts-Programm im Hintergrund, der Hardware, und der Software, die die Menschen in die Armut treibe. „Hinter allem steht das Ziel der Regierung, die Erwerbsfähigkeit zu erhöhen.“ Und zwar ohne einen Beitrag der Wirtschaft. „Alle Sprachrohre der Wirtschaft fordern jetzt ernsthaft, was früher belächelt worden wäre: Die Bertelsmann-Stiftung, das Institut für Wirtschaftsforschung, die Arbeitgeberverbände befürworten 25 Prozent weniger Lohn für die gleiche Arbeit.“ Nur der Staat soll noch die Arbeitslosigkeit verringern, durch Subventionen oder nicht abzulehnende Arbeit, wie die so genannten 1 Euro-Jobs. Wohlfahrt bedauert, dass die Proteste sich so schnell verschoben hätten: „Erst wurde Hartz kritisiert, jetzt nur noch seine fristgerechte Umsetzung.“

Werner Rätz von attac und Gabriele Schmidt, Vorsitzende von Verdi NRW, sorgten für praktische Vorschläge. Rätz bestreitet, dass das herkömmliche Bild der Arbeitswelt überleben sollte. „Der gesellschaftliche Reichtum darf nicht mehr über die Arbeit verteilt werden.“ Stattdessen solle jeder Mensch, ob arbeitend oder nicht, eine Grundsicherung erhalten. Schmidt will die Vermögenssteuer. „Die 100 reichsten Deutschen verfügen über 250 Milliarden,“ sagt sie. Ein starker Sozialstaat könne über neue Steuergerechtigkeit finanziert werden. ANNIKA JOERES