Schmerzkapitale Frankfurt am Main

Gerade ist man glücklich und entspannt, da ist man ausgerechnet gleich als Experte in Sachen Liebeskummer unterwegs. Ein Erfahrungsbericht

Frankfurt am Main sah unansehnlich, grau und deprimiert aus. Das Einzige, das optisch erfreute, waren die schönen Plakate, die auf eine Ausstellung mit Bildern aus der Stalinzeit in der Schirn aufmerksam machten. Ich war gerade auf Journalistenverschickung, das heißt, Carmen Brusic hatte mich auf den „Lovepangs“-Kongress eingeladen, der am Wochenende in der Stadt, in der der Fußballer Andi Möller zu Hause ist, stattfinden sollte. Die Stadt hieß nun „Schmerzkapitale FFM 03“, weil es an den zwei Tagen im Theater „Schauspielfrankfurt“ um Liebes- und andere Schmerzen gehen sollte.

Ich war also als einer von ungefähr hundert „Schmerzexperten“ eingeladen worden, obgleich ich mich gerade ganz prima fühle; zudem kenne ich mich vor allem rein praktisch mit dem Unglück aus und fühle mich nicht so recht als Experte. Lampenfieber war eher mein Problem. Doch Doris Überdosis, die am nächsten Tag nach Neuseeland fuhr, sagte: „nur keinen Stress“, und dann ging’s auch.

Die Experten jedenfalls saßen dann an kleinen Tischen im Halbrund vor der schönen Fensterfront des Theaters. Im Rücken lagen die hübschen, in der Nacht leuchtenden Hochhäuser, für die Frankfurt bekannt ist, vorne der große Bühnenraum, der gerade renoviert wurde, und dazwischen das Publikum – nette Leute vor allem zwischen 20 und 30 –, vor denen man sich ein bisschen fürchtete, weil so klar und überzeugend waren die Gedanken im Kopf ja nun auch nicht. Aber ein Anfang war gemacht, als der Filmkritiker, Staatsanwalt und Chance-2000-Ideologe a. D. und unverwandte Kollege Dietrich Kuhlbrodt am Eingang die Zuschauer wie ein kundiger Arzt in vier unterschiedliche, angloamerikanisch verfasste („Pain“; „Rage“, „Resent“, „Over“) Schmerzstufen einteilte.

Für jede Schmerzstufe gab’s einen Button. Die so Markierten und Sortierten besorgten sich nun zwanzigminütige Gesprächstermine bei den Experten, die Promis, Künstler, Journalisten, Punker, Pater, Kirchenleute, Chirurgen usw. waren. Etwa Sepp Bierbichler, der sich um den „Schmerzschrei in der Spaßkultur“ kümmerte, Prof. Bazon Brock, der über „Schmerzlust – Ist das Böse selber doppelbödig“ sprechen wollte, K.D. Wolff, bei dem es einfach nur „Dostojewski“ hieß, und Uta Ranke-Heinemann, die das delikate Thema „Liebe und Sexualität“ behandelte.

Der übergewichtige Schauspieler Peter Kern sprach über „Verzweiflung – Selbstmord – Mord“, die wunderbare, manisch-depressive Schauspielerin Brigitte Kautsch über Psychopharmaka, sie machte gleich Reklame für ein neuartiges Medikament, das keine Nebenwirkungen habe, und schenkte ihren Gesprächspartnern zuweilen kleine Gedichte. Michel Friedman und Bärbel Schäfer hatten zunächst zugesagt und waren dann doch nicht gekommen. Weiterhin gab es noch Theaterkaraoke. Klassische Schmerzszenen auf kleiner Bühne. Der Ulf spielte einen ganz hervorragenden Hamlet und eine Zehnjährige die Julia und warf dabei glücklich ihre Arme hoch.

Die Idee für das Ganze war der jungen Tiroler Projektleiterin Carmen Brusic vor sieben Jahren gekommen, als sie liebeskummerkrank nach einem Thema für ihre Diplomarbeit gesucht hatte, die dann statt von einer Kampagne zur Imageverbesserung der Polizei naturgemäß von Liebeskummer, was sonst, handelte. Sie sagte, die Tage in Frankfurt wären die schönsten in ihrem Leben gewesen, und am Ende lagen sich Christoph Schlingensief und Brigitte Kautsch in den Armen und sangen „What shall we do with the drunken sailor“, während Kautschs Mann Kuhlbrodt leicht indigniert lächelte, und die Eintracht hatte ja auch gewonnen.

DETLEF KUHLBRODT