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Archiv-Artikel

Lesen kann tödlich sein

Einsatzkräfte schleppten rund 12,8 Tonnen Bücher aus Berliner Wohnung

Nur zur Küche, die auch als Schlafstätte diente, gab es noch einen Einschlupf

Wegen akuter Einsturzgefahr mussten Polizei und Feuerwehr gestern in der Berliner Dudenstraße die geräumige Dachgeschosswohnung eines 58-Jährigen von tausenden von Büchern befreien. Wie ein Polizeisprecher am Morgen mitteilte, waren achtzehn Feuerwehrleute und drei Polizisten neun Stunden im Einsatz, um das fünfstöckige Gründerzeitgebäude zu retten. Zwölf eilig evakuierte Familien konnten erleichtert aus einem Notaufnahmelager in der Thomas-Mann-Grundschule an der Langenscheidtbrücke wieder in ihre Behausungen zurückkehren, nachdem ein vereidigter ambulanter Statiker der obersten Baubehörde Entwarnung signalisiert hatte.

Der Hauswart Wolfgang Schiller brach am Ende der Aktion unter der Last der zurückliegenden Ereignisse weinend zusammen. Ein Riss in der Decke der Wohnung unter dem Bücherfreak hatte ihn am Morgen auf den Plan gerufen und den als „Messie“ verschrienen Dachgeschossmieter dringlich um Einblick in sein Domizil bitten lassen. Durch einen widerwillig geöffneten Türspalt hatte Schiller eine Sophienausgabe der Werke Goethes und damit sogleich das Ausmaß der Bedrohung erkannt. Umgehend meldete er den Behörden „Gefahr im Verzug“. Es seien ihm, sagte er unter Tränen, schon beim Einzug des Mannes Bedenken gekommen, als er die vielen Europaletten mit hunderten von Costa-del-Sol-Bananenkisten gesehen hatte. „So viele Bananen kann ein alleinstehender Mann ja gar nicht essen, bevor sie schlecht werden.“

Die Einsatzkräfte schleppten rund 12,8 Tonnen Bücher aus der Wohnung des Mannes und transportierten sie mit Hilfe eines Sattelschleppers in einen leer stehenden Hangar auf dem nahen Flughafen Tempelhof, wo sie bis auf Weiteres zwischengelagert werden. Der zum eigenen Schutz von seinen Büchern befreite Sammler erlitt einen Schock und musste sich in die für solche Fälle vorgesehene therapeutische Betreuung begeben. „Bibliomanie ist eine der großen schleichenden Krankheiten unserer Tage“, sagte die Psychologin Irmgard Reißer-Brand, die sich in ihrer Bucher Praxis auf die schwierige Therapie der als unheilbar geltenden Schädigung des nervus exlibris im Cerebrum spezialisiert hat.

Bundesweit, so Reißer-Brand, sei von rund einer Million Betroffenen auszugehen. Doch die Dunkelziffer schlecht beleuchteter Privatbibliotheken liege weit höher, vermutet sie. „Die stetig steigenden Umsätze des führenden Internet-Antiquariats ZVAB (Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher) sprechen eine deutliche Sprache!“ Bücherstaublunge und Schädelfrakturen durch umstürzende, überladene Bücherregale sind dabei nur die eklatantesten Folgen des Buchfiebers. Gefährlicher, weil vielfältig in der Wirkung, seien die oft jahrelange Befangenheit der Erkrankten in Lektüre, ihre zunehmende soziale Isolation und die „Schwierigkeit“ im Umgang mit ihnen. Viele ruinierten sich, verkrafteten die Zwangsversteigerung ihrer Schätze nicht und begingen Suizid.

Auch für die am Einsatz in der Dudenstraße beteiligten Feuerwehrleute und Polizisten waren Psychologen vor Ort. Der Anblick von Privatbibliotheken ruft bei Unbelesenen immer wieder Angstzustände, Depressionen und Übelkeitsanfälle hervor. Nach Polizeiangaben waren vor dem Eingreifen alle Zimmer und selbst das Bad in der Wohnung des Enthusiasten wegen völliger Überfüllung unzugänglich gewesen. Nur zur Küche, die zugleich als Schlafstätte gedient hatte, habe es noch einen schmalen Einschlupf gegeben. Auch das Auto des 58-Jährigen sei voller Bücher gewesen.

Der Mann, dem der Abtransport seiner geliebten Mitbewohner überaus hart zusetzte, hat die Nacht bei einem Bekannten und Sammlergenossen verbringen müssen, wo ihn ein vertrauter Anblick erwartete. Der zwangsenteignete Buchsammler kam in einer schmalen Gasse neben einer 128-teiligen Gesamtedition mit dem Titel „Günter Grass meets Günter ‚Baby‘ Sommer“ notdürftig zur Ruhe. Er habe, sagte der unfreiwillig gerettete Büchernarr, die Hoffnung, bald ebenfalls, wie sein Gastgeber, eine geeignete Kellerwohnung zu finden.

Irmgard Reißer-Brand, die sich auch kommunalpolitisch mit dem wachsenden Problem der wilden Büchereien in Obergeschossen auseinander setzt und kürzlich angeregt hat, in Mietverträgen einen Paragrafen einzufügen, der die Aufstellung von Bücherregalen in sämtlichen höher gelegenen Wohnungen genehmigungspflichtig macht, bittet alle Bürgerinnen und Bürger um erhöhte Wachsamkeit. Insbesondere seien die Adressaten herrenloser Büchersendungen, welche sich in einem Treppenhaus stapeln, umgehend den Behörden zu melden. Wenn der Sammler erst einmal keine der im Rausch bestellten Bücher mehr annimmt, weil ihm der Stellplatz fehlt, ist es nicht selten bereits zu spät. Eine Günter-Grass-Gesamtausgabe wiegt allein 67 Kilo. Auch ohne Günter „Baby“ Sommer. Das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. TOM WOLF