: Die Crux der Neuen Musik
KLANGÄSTHETIK Berliner Ensembles von Zeitkratzer bis Phosphor bemühen sich um eine Rundumerneuerung des verstaubten Werkbegriffs der Avantgarde: Dafür greifen sie auf Pop-Stilmittel zurück und spielen mit Laien
VON TIM CASPAR BOEHME
Da begibt man sich zu einem Konzert mit „zeitgenössischer“ Musik, nur um dann in einem spärlich mit Bildungsbürgern älteren Datums und einigen unkonventionell gewandeten jüngeren Menschen besetzten Auditorium zu landen. Eine niederschmetternde Erfahrung. Sie gibt indirekt Auskunft über die Popularität „Neuer“ Musik.
„Das ist eine Dixieland-Szene“, findet Reinhold Friedl. Der Pianist und Leiter von Zeitkratzer sieht die Strukturen der Neuen Musik in Selbstauflösung. Mit der Gegenwart habe das nichts mehr zu tun. Die Schwierigkeiten der „ernsten“ Musik, besonders ihre begrenzte Außenwirkung, hält Friedl für hausgemacht. Statt einfach Musik zu machen, bestehen viele Komponisten auf dem Avantgarde-Gedanken der ständigen Neuerfindung. In Betriebsstrukturen funktioniere das nur begrenzt: „Es geht nicht, die Erneuerung zu institutionalisieren.“
Für Zeitkratzer gelten andere Kriterien: „Das Neue an sich ist überhaupt nicht interessant“, so Friedl. Als er die Gruppe im Jahr 1997 in Berlin gründete, wollte er in erster Linie mit Musikern zusammen spielen, die nicht „in festgefahrenen Bahnen stecken, sondern sowohl improvisieren als auch komponierte Musik spielen oder selber komponieren“. Damit wollte er zu einem „vernünftigen Musikerbild“ zurückkehren, bei dem der Komponist nicht als Diktator auftritt und den Interpreten vorschreibt, was sie zu tun haben. Ihre Arbeit sei vielmehr Teil der Komposition.
Auch bei der Auswahl des Repertoires unterscheidet sich Zeitkratzer von anderen „Ensembles“. Denn während sich in der Neuen Musik ein „Legionärstum“ eingebürgert habe, bei dem Ensembles je nach Besetzung des aufzuführenden Werks zusammengestellt und die einzelnen Musiker austauschbar würden, besteht Friedl auf dem Band-Charakter von Zeitkratzer. Die Kompositionen sollen zur Besetzung passen und nicht umgekehrt. Zeitkratzer ist auch kein Uraufführungs-Ensemble, das Stücke einmal spielt und dann nie wieder. Zu den regelmäßig gespielten Werken zählen neben „klassischen“ Komponisten des 20. Jahrhunderts wie John Cage oder Karlheinz Stockhausen auch Stücke der Death-Metal-Band Deicide. Das Zeitkratzer-Konzept geht bestens auf. Selbst das vor zwei Jahren gegründete Label Zeitkratzer Records ist, allen Abwärtstrends auf dem CD-Markt zum Trotz, erfolgreich. Im Dezember erschien eine 3-CD-Box, auf der Kollaborationen mit Musikern der elektronischen und der Improvisations-Szene wie Terre Thaemlitz, Carsten Nicolai und Keiji Haino versammelt sind. Sie ist mittlerweile ausverkauft. Für den Herbst ist eine Box mit Musik von John Cage, Alvin Lucier und James Tenney vorgesehen.
Zeitkratzer ist keinesfalls die einzige Ausnahme im Betrieb der Neuen Musik. Das Ensemble Zwischentöne passt auch nicht so ganz ins Bild akademisch strengen Musizierens. Von Anfang an bestand die aus einem Kurs an der Musikschule Kreuzberg hervorgegangene Gruppe aus Laien und Profis und konzentrierte sich auf Mischformen zwischen Konzert, Performance und Installation. Als ausdrücklich „nicht-akademisch“ versteht sich auch die große Berliner Szene der Improvisations- oder „Echtzeitmusik“. Fernab etablierter Notation experimentieren Musiker wie der Schlagzeuger Burkhard Beins oder der Trompeter Axel Dörner mit neuen Spieltechniken und der Verbindung von akustischen und elektronischen Instrumenten.
Die im Jahr 2000 gegründete Gruppe Phosphor bündelt die verschiedenen Ansätze der einzelnen Musiker. Der Autodidakt Beins sucht als Solist wie in seinen diversen Formationen nach neuen Ausdrucksformen, ohne sich dabei ständig neu erfinden zu wollen. Ihm geht es mehr um „freiwillige Beschränkung“ bei der Auswahl der Mittel. Statt Beliebigkeit herrscht eine gewisse Strenge der Musik vor, Phosphor klinge „eher wie Neue Musik“. Die langjährige Arbeit hat zu einem gemeinsamen Klang geführt, in dem die Musiker ihre individuellen Erfahrungen ganz selbstverständlich verarbeiten. „Wir versuchen, etwas Eigenes zu etablieren.“ Bei gemeinsamen Konzerten werde nicht ständig überlegt, wohin die Reise diesmal gehen soll. „Es geht darum, die etablierte Ästhetik auszudifferenzieren.“ Nicht umsonst ist Klang in dieser Musik ein entscheidender Parameter.
Viel Geld verdienen kann man in keinem dieser Ensembles. „Ökonomisch ist das eher prekär“, so Beins. Möglichkeiten für bezahlte Auftritte in Berlin gibt es wenig. Darum bemühen sich sowohl Zeitkratzer als auch Phosphor vor allem um Einladungen zu Konzerten und Festivals im Ausland. Als Berliner darf man sich daher nicht wundern, wenn Auftritte in der Hauptstadt eher die Ausnahme sind. Zum Glück sind da noch die Tonträger.
Zeitkratzer: „Zeitkratzer. Carsten Nicolai/Terre Thaemlitz/Keiji Haino. Electronics“ (ZKR), Phosphor: „Phosphor II“ (Potlatch)