: Die Geschichte vom Elch
Vier KünstlerInnen, kein gemeinsames Thema, dafür gemeinsame Wirkungskraft: Das Bremer Gerhard-Marcks-Haus bricht mit der Ausstellung „Keine Angst vor Schönheit“ eine Lanze für zeitgenössische Bildhauerei, die ohne Bildungshuberei auf Sinnlichkeit setzt
Wenn so ein Milchschwimmer am Bauch gekrault werden will, stellt er sich auf sein Geweih und streckt alle Viere von sich. Er rollt mit den Glasaugen, präsentiert sein Wachsfell und versteift seine Alu-Rohr-Gliedmaßen, so dass es aussieht, als wäre er mitten in einem Rückwärts-Salto eingefroren. Die Zunge hängt ihm rot nach unten. Und trotz aller Bewegungs-Dynamik gibt es diese klare Botschaft an die BesucherInnen im Bremer Gerhard-Marcks-Haus: Kraul mich!
Aber Kraulen ist im Gerhard-Marcks-Haus verboten, nur schauen ist erlaubt. Obwohl der „Milchschwimmer“ des Braunschweiger Bildhauers Michael Nitsche ganz eindeutig abhebt auf die haptische Qualität des Materials: Das Milchschwimmer-Fell ist aus heißluftgeföntem Wachs und sieht aus, als sei es Zuckerguss; der Milchschwimmer-Körper wirkt federleicht und bei dem Hirschgeweih wüsste man gerne, ob‘s Flohmarkt-Plastik ist oder original Bio-Horn.
Das mit dem Material war zum Beispiel bei Gerhard Marcks höchstselbst noch anders: Bei dessen Bildhauerei ist Bronze eben Bronze und Stein ist Stein und die Kunst definierte sich über die Form, mit der ein Stück Natur künstlerisch abzubilden war. Nitsche hingegen will nichts abbilden, sondern etwas erzählen. Dabei erzählt das Material wesentlich mit, weswegen am Ende vor allem eines bleibt: die sinnliche Erfahrung. Im Fall „Milchschwimmer“ ist‘s eine Art mythologisch schimmernder Elch, der durch die heiligen Hallen des Museums fliegt wie durch einen Comicfilm.
„Keine Angst vor Schönheit“ heißt diese Ausstellung im Gerhard-Marcks-Haus, die neben den Werken von Michael Nitsche auch Arbeiten von Sandra Munzel und von dem Amsterdamer Künstlerpaar Liet Heringa und Maarten Van Kalsbeek präsentiert. Die vier KünstlerInnen liegen altersmäßig zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig und teilen ansonsten vor allem die Lust am eindrucksvollen, unmittelbar ins Auge fallenden Werk.
Wobei alle vier KünstlerInnen dabei eine Form von Opulenz pflegen, die nicht mit der Bruchstange vorgeht. Sandra Munzel beispielsweise unterbietet mit ihren kaum 15 Zentimeter großen Figuren die herkömmlichen Skulpturen-Maße deutlich. Ihre geschlechtslosen Figuren haben dafür mal mehrere Brüste, mal unterentwickelte Gliedmaßen, riesige Bäuche oder Gesichter ohne Münder. Sie heißen „Zwergin“ oder „Weißlicher mit Krallen“, sind im Kern aus Ton und außen mit einer dünnen Wachsschicht überzogen, was ihnen einen fleischlich-wulstigen Teint gibt.
Munzels Figuren sehen aus, als hätten J.R.R. Tolkien und Gottfried Benn ihre Träume zusammengeworfen und bildlich ausgewertet. Entscheidend allerdings: Trotz allen Missbildungen schweben die Figuren zwischen freundlich-nett und bedrohlich-düster, je nach der Perspektive des Betrachters. Die Figuren bleiben in sich widersprüchlich und das nicht auf den ersten, sondern auf den zweiten Blick.
Beim Betrachter kommen Munzels Figuren direkt an, als persönlicher, unmittelbarer Ausdruck, der ohne kunsthistorisches Vorwissen funktioniert – auch das ein Prinzip, das Nitsche, Munzel und Heringa / Van Kalsbeek teilen. Zum einen ist‘s also das Material, das „Keine Angst vor Schönheit“ bewirkt, zum anderen ist es die Gegenwärtigkeit der Arbeiten: Sie setzen auf Erfahrbarkeit ohne kunsthistorischen Background oder vorweg mitzuteilende Konzepte. Allen vier KünstlerInnen geht es also um Sinnlichkeit – dass die Ausstellung die Schönheit statt die Sinnlichkeit im Titel trägt, muss als kleine Provokation am Rande verstanden werden.
Groß, für Marcks-Puristen vielleicht auch ein bisschen provokativ und in jedem Fall sehr augenfällig startet die Ausstellung mit der Arbeit „Marcks jumping Chinese, to be stored Laos style“ von Liet Heringa und Maarten Van Kalsbeek. Das Künstlerpaar hat im Auftrag des Marcks-Hauses einer alten, halb zerstörten Marcks-Skulptur neues Leben eingehaucht, und das heißt: Aus Marcks’schen Gips-Beinen wächst eine bunte Fontäne aus Kunstharz, Stahl, Garn und Stoff. Aus dem Material-Sturm lässt sich unschwer eine Gestalt herauslesen, die ein imaginärer Gegenwind bedrohlich in Rücklage bringt. Dabei kommt der Sturm nicht nur von außen: Die Energie dringt aus den Marcks-Beinen heraus und bricht sich Bahn nach oben. Als hätte jemand das Ventil einer Leitung unter Hochdruck geöffnet.
Ähnlich kraftvoll und raumgreifend sind auch die anderen Arbeiten des Künstlerpaares – Energie, die die Bremer Landesbank dazu bewegt, zeitgleich zur Ausstellung im Gerhard-Marcks-Haus Werke von Heringa / Van Kalsbeek im Geschäftsgebäude zu zeigen. Immer Bewegung, immer bunt, mal wie ein Raketenstart, mal wie ein Märchenwald nach einem Sturm. Wie bei Nitsche geht es um Dynamik, die eingefroren wird. Beim genaueren Hinsehen geht es aber auch darum, das Innenleben verschiedenster Skulpturen nach außen zu kehren: In jede Skulptur von Heringa / Van Kalsbeek ist eine „fremde“ Skulptur eingearbeitet, und wenn die nicht gerade von Marcks selbst stammt, dann gerne auch vom Flohmarkt: Vor allem kitschige Abbilder reich verzierter chinesischer Damen befreit das Künstlerpaar und nimmt sie als Ursprung einer Explosion aus Material und Farbe.
Die Idee der Sinnlichkeit leuchtet ein im Gerhard-Marcks-Haus und schön ist’s auch, wenn sich das Kunstharz wie frisch getropft über die ansonsten blank polierten Fließen ergießt. Wirklich attackiert aber wird die „Angst vor Schönheit“, weil diese Arbeiten auf Plakativität verzichten – und trotzdem nicht übersehen werden können. Klaus Irler
„Keine Angst vor Schönheit“ ist bis zum 20. Februar 2005 im Gerhard-Marcks-Haus zu sehen. Nächste Führung: Donnerstag, 25.11., 17 Uhr mit Jürgen Fitschen und Sonntag, 28.11., 12 Uhr mit Veronika Wiegartz; Öffnungszeiten: dienstags bis sonntags, 10 bis 18 Uhr.