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Archiv-Artikel

Warum haben Tische vier Beine?

Dass fast alle Möbelstücke auf Beinen stehen, lässt sich nur zum Teil funktional und physikalisch erklären. Entscheidender ist, dass die Formen von Möbeln ursprünglich aus der Tierwelt hergeleitet wurden und das Obensitzen Herrschaft über all jene ausdrückt, die auf dem Boden im Schmutz sitzen

VON BURKHARD BRUNN

Die Warum-Fragen ihrer Kinder bringen Eltern oft in Verlegenheit. Denn den Kindern erscheinen Dinge, die den Eltern schon lange selbstverständlich sind, als fragwürdig. Gesetzt der Fall, ein Kind fragt, warum der Tisch vier Beine hat, was antwortet man da? Kann man da sagen: was für eine blöde Frage? Kann man nicht! Warum haben Tische und Stühle Beine? Damit man die eigenen darunter stellen kann. Selbstverständlich. Alles sehr funktional. Und warum hat der Schrank Beine? Und die Kommode? Damit man darunter fegen kann? Stünden sie direkt auf dem Boden, wäre das gewiss praktischer. Funktionalität erklärt keineswegs, warum ein Schrank Beine haben.

Tisch, Stuhl, Schrank und Kommode heißen „Möbel“: sie sind mobil, im Gegensatz zu den Immobilien, die sich – zum Glück – nicht bewegen lassen. Mobilität bedeutet im Fall der Möbel, dass man sie verrücken oder bei einem Umzug mitnehmen kann. Soweit erklärt die Funktion alles. Mobil und vierbeinig aber sind die Möbel warum? Weil sie ursprünglich als eine Art Haustiere betrachtet wurden. Weil die Formen der Möbel von den Tieren abgeleitet sind, nur darum haben sie Beine. Denn stehen könnten sie auch ohne Beine und, rein physikalisch betrachtet, am sichersten auf drei Beinen. Und einbeinige Tische? Auch diese sind von der Natur hergeleitet: sie sind Urenkel des Baumes.

Die graziösesten Möbel auf geschwungenen Beinen mit kleinen Hufen unverkennbar tierischer Herkunft bauten Abraham und David Roentgen aus Neuwied, im Ancien Régime hochgeschätzte Kunsttischler. Diese zarten braunen Möbel sind von einer solchen Lebendigkeit, dass man sich nicht wunderte, wenn sie wie die Zicklein wider alle Vernunft durch die offenen Türen in den Garten hinaussprängen. Dies nebenbei: Bei Carlo Levi, dem Autor von „Christus kam nur bis Eboli“ gibt es eine „hinkende Kommode“.

Dieser natürliche Ursprung war noch unmittelbar deutlich bei den gewaltigen Lehnstühlen des deutschen Historismus, die auf Löwentatzen und Greifenklauen stehen – wie einst schon in der Renaissance. Die bauchigen Barockkommoden haben deutlich einen Leib, der sich in den Raum wölbt. Und sogar die Badewannen haben Tatzen. Wenn der südamerikanische Maler Ignacio Iturria einem dicken Sofa einen Rüssel malt, wird deutlich, dass die weichen Polster von Sesseln Fleisch imitieren. Schwellende Polster mit dem Messer aufzuschlitzen oder mit dem Säbel, wie es die Marodeure zu Revolutions- und Kriegszeiten taten, hat etwas Stellvertretendes. Gemeint sind die Bäuche der abwesenden Besitzer. Zu Sesseln haben wir ein besonders intimes Verhältnis, weil sie mit Beinen, Armlehnen und Rücken den menschlichen Körper im Groben nachbilden, an den sie sich anschmiegen, wenn man auf ihnen sitzt. Künstler haben den Armstuhl oft als Symbol für den Menschen selber benutzt.

Doch die gewaltigen „Zylinderbureaus“, fürstliche Schreibsekretäre zum Ende des 18. Jahrhunderts, stehen nicht mehr auf geschwungenen Beinen, sondern auf steifen Säulen. Wie bereits früher bei den großen „Frankfurter Schränken“ dient im Klassizismus als Vorbild die Architektur. Die Schreibtische haben nun den Charakter von Schlössern mit mehreren Etagen und Balustraden und Geheimkammern. Wenn man im 20. Jahrhundert sich auch des tierischen Ursprungs der Möbel nicht mehr erinnerte, so verzichtete man doch keineswegs auf die Beine: sogar schwere Schränke stehen auf Stümpfen, die in funktionaler Hinsicht ganz überflüssig sind. Das hat allein ästhetische Gründe, denn die Möbel verlieren an Schwere, wenn man sie vom Boden wenigstens ein wenig abhebt.

Es gibt Sessel, die auf kurzen verchromten Vierkantrohren stehen, sodass man die Vorstellung hat, die Sitze schwebten. Die scheinbare Schwerelosigkeit schwerer Möbel, das hat etwas von der Überwindung der Schwerkraft und daher etwas Erhebendes – ästhetisch betrachtet. Die Anmutung von Leichtigkeit, die durch Beine erreicht wird, betont – gegenüber festen Einbauten wie Sitzecken, die sich mit der Architektur verbinden – die Beweglichkeit der Möbel, das heißt genau das, was sie eigentlich zu Möbeln macht. Dass man sie hier und dorthin stellen könnte, gibt guten Möbeln eine Eigenheit, ja fast ein Stück Individualität, die eingebaute Betten und Schränke nicht haben können. Die gehören zum Haus und betonen mit der Unverrückbarkeit die Sesshaftigkeit.

Das Sitzen auf dem Stuhl ist im Grunde ein Reiten. Man sitzt hoch zu Ross, denn der Stuhl ist so etwas wie ein Pferd. Der junge Goethe pflegte in seinem Weimarer Gartenhaus, in dem er mit seiner Christiane schmuste, beim Dichten auf einem Stuhl zu sitzen, der wie ein Pferdesattel gearbeitet war. Er nahm den Stuhl zwischen die Beine. Grundsätzlich drückt das Obensein Herrschaft aus über das, was unten drunter ist. So ist das Reiten auch Beherrschung der Natur, und das Sitzen auf dem Stuhl erinnert daran. Viele Kirchenkanzeln und Säulen basieren auf brüllenden Löwen, die Symbole der überwundenen, doch immer noch mächtigen Natur. Aus Afrika kennt man geschnitzte hölzerne Sitze aus Tier- oder Menschenrücken. Die Häuptlinge thronten buchstäblich auf ihren Untertanen, die ja darum früher auch „Untersassen“ hießen, also die, welche unten sitzen. Der Stuhl ist wie der Thron ein Mittel zur Erhöhung des Individuums. Vom hochbeinigen Stuhl hat man eine Übersicht und wird auch selber gesehen.

Die hohen Stühle der abendländischen Kultur haben letztlich mit dem unglaublichen Schmutz zu tun, der überall auf dem Boden lag. Das verächtlichste Tier ist bekanntlich die beinlose Schlange, weil sie durch den Schmutz kriecht – sie gilt als ein Tier des Teufels. Die Vorstellungen, die wir soziologisch mit „hoch“ und „niedrig“ verbinden, beziehen sich ursprünglich auf den Schmutz. Der Bettler, in der sozialen Hierarchie der niedrigste, sitzt direkt im Schmutz und keinesfalls auf einem Stühlchen, was er ja könnte, denn das würde den Eindruck der sozialen Niedrigkeit zunichte machen, dessen er bedarf, um authentisch zu rühren. Dazu hält er den Blick zu Boden gerichtet, er blickt dem barmherzigen Passanten nicht ins Auge, als sei er ihm ebenbürtig, sondern er blickt in den Dreck. Die Verbeugung und den „Diener machen“ sind Ergebenheitsgesten, deren Bedeutung darin liegt, dass man sich dem Schmutz nähert, wenn man den Kopf senkt. Das Kriechen und das Kriecherische ist uns zuwider, denn es entspricht nicht der abendländischen Vorstellung von Menschenwürde. Uns vom Boden zu erhöhen, das ist ein wesentlicher Aspekt des Stuhles, dieses Nachfahren des Pferdes.