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Archiv-Artikel

Wo Adorno nie war

Vor 25 Jahren gründete sich das Café Ruffini in München. Ein Kollektiv, kein Chef. Akademisch, linksalternativ. Das hat sich gehalten. Und das Publikum?

EIN GLÜCKWUNSCH VON JOSEPH VON WESTPHALEN

Im Café Ruffini in München werden keine Handys benutzt, auch nicht mit spitzem Finger flinke SMS-Botschaften getupft. Dafür sitzt immer mal wieder jemand da und schreibt ganz herkömmlich Sätze auf Papier. Gelesen werden wie in jedem anständigen Café jede Menge Zeitungen und ab und zu ein Buch. Einmal, Sternstunde meines Autorendaseins, sah ich zwei lebhaft plaudernde Frauen an einem kleinen runden Marmortisch – und zwischen den Tassen ein Roman von mir! Welche von beiden las ihn? Die atemberaubend Schöne oder die nicht ganz so Schöne? Hochspannung! Lebensgefahr! Nach endlosem Warten der Augenblick der Wahrheit. Die nicht ganz so Schöne zahlte, stand auf, zog den Mantel an – und steckte meinen Roman ein.

Das Ruffini ist 25 geworden. Als ich bei der Geburtstagsfete lobende Worte verlor, habe ich auch diese Anekdote zum Besten gegeben. Der Dramaturgie zuliebe machte ich die Schöne noch schöner und die weniger Schöne noch weniger schön. Um mich über meine enttäuschte Männerhoffnung lustig zu machen und mich für meinen Äußerlichkeitswahn zu bestrafen, dichtete ich ihr einen Bauch und dicke Beine an. Das hätte ich nicht tun sollen. Buhs und unmutiges Grollen der Ruffini-Festgesellschaft zeigten mir die Grenzen.

Chianti statt Tschianti

Eine Bemerkung, die woanders längst als neckisch durchgeht, wird von den Ruffinis und ihren Stammgästen sofort als ungalant erkannt. Ich war gerührt. Das war das Schlagen der alten linken, aufmerksamen Herzen. Wo wird heute noch protestiert, wenn es nach Frauenfeindlichkeit riecht.

Im Herbst 1978 wurde das Café Ruffini gegründet, von linken Eingeweihten mit wohlwollendem Interesse, aber auch mit Sorge beäugt: ein Kollektiv, kein Chef, jedem gehört ein Teil des Ganzen – würde das Modell überleben oder würde die Revolution auch diese Kinder fressen? Zur Erinnerung: Zehn Jahre nach 68 sprach man noch nicht von den „Altlinken“, die waren damals erst Anfang 30. Es waren also zukünftige Altlinke, die damals neben normal undefinierbaren Gästen gern im Ruffini saßen: noch unergraute freundliche Juristen und Architekten mit Idealen und mehr Zeit als heute – und alternative Studienabbrecher. Alle mit beginnender politischer Skepsis, aber noch immer von kommunistischen italienischen Volksfesten schwärmend – und vor allem von italienischem Essen und italienischem Wein.

Vor einem Vierteljahrhundert wusste man schon, dass Chianti ein toskanischer Rotwein ist, man sprach ihn auch schon richtig aus, sagte nicht mehr Tschianti wie noch in den 60er-Jahren und auch nicht mehr Sutschini zu den Zucchini. Der heute so beliebte Rucola und der Balsamico waren allerdings damals nördlich der Alpen noch weitgehend unbekannt, zumindest noch nicht in Mode. Das kann sich ein so genannter junger Mensch von heute, der im Ruffini am späten Nachmittag sein Frühstück beendet und die Tafel mit den Abendgerichten studiert, gar nicht mehr vorstellen: dass es mal keinen Rucola auf den Speisekarten gab. Auch der Prosecco war noch kein Allerweltsgesöff.

Es könnte übrigens durchaus sein, dass einige der jungen Frühstücker von heute vor 20 Jahren hier als Kleinkinder herumtappten, während ihre akademischen Eltern Wohlleben und linksalternative Gesinnung seit Stunden gedanklich in Einklang zu bringen versuchten. Diese Eltern sieht man heute nicht mehr so viel im Ruffini sitzen, sie verdienen das Geld, das ihre Kinder hier ausgeben. Von wegen Schuldenberg, der den nächsten Generationen überlassen wird.

Knapp 30 Gesellschafter betreiben heute das Ruffini, kochen, backen, bedienen, importieren Wein, organisieren Veranstaltungen. Früher diskutierte das Kollektiv jeden Montag (Ruhetag) stundenlang und hitzig, wie es weitergehen solle, längst läuft der Laden auch ohne solche Diskussionen. Ihr Durchschnittsalter haben die Ruffinis nicht errechnet, jede und jeder, die oder den man fragt, behauptet, nicht zu wissen, wie alt die anderen sind. Die meisten dürften zwischen 40 und 50 sein. Ein paar sind Anfang, Mitte 30. Generationskonflikte gibt es nicht.

Als Gast fühlt man sich im Ruffini auch als Mittfünfziger oder Sechziger noch wohl und freut sich, wenn man hier seine Mittzwanziger-Kinder trifft, lässt sich von ihnen eine Zigarette schenken, lädt sie auf eine Kürbissuppe ein und unterdrückt, um sich nicht unbeliebt zu machen, eine kulturgeschichtliche Nachhilfestunde und eine kleine Reflexion über das Authentische:

Es war kulinarische Steinzeit, 1978. Natürlich gab es tausende von Italienerkneipen, aber das Ruffini, obwohl nicht von Italienern betrieben, war echter. Beim echten Italiener war es eben nicht echt, sondern folkloristisch. Fototapeten vom Gardasee gibt es im Ruffini nicht, sondern viel weiße Wand, manchmal, wechselnd, mit Kunst behängt. Im Ruffini gab es immer echteren Wein und echteren Cappuccino. Durch das Ruffini wurde München italienischer. Und es wurde berlinerischer. Im alten Westberlin gab es etliche Kneipen mit einem ähnlichen Fluidum: unaufgeregt linksalternativ, unorthodox öko, auf unspießige Art gemütlich. Ein paar Nudeln und zwei Glas Wein im Ruffini ersparen einem auch heute noch eine Reise nach Berlin.

Wer geht ins Ruffini? Die Schickeria oder wer sich dafür hält nicht – auch nicht, wer Schickeria sehen will. Darin unterscheidet sich das ruhige Ruffini ganz wesentlich vom hektisch-coolen Schuman’s, in dessen Gedränge man Boulevardzeitungsprominenz und Modedichter erspähen kann. Im Ruffini sitzen auch Verleger, Büchnerpreisträger, Rundfunk- und Zeitungsredakteure und Chefs piekfeiner Plattenlabel, werden aber nicht weiter bemerkt. Wer kennt sie schon.

Alter und Bedeutung der Gäste spielen keine Rolle. Natürlich kann im Ruffini kein Boris Becker sein, das geht zu weit. Bei meiner Lobrede habe ich ein Gesellschaftsspiel vorgeschlagen – nicht weil Prominenz ein Problem des Ruffini wäre, sondern weil die Vorstellung, wer in ein Lokal passt und wer nicht, etwas über das Lokal und seine Integrationskraft aussagt. Dieter Bohlen würde absolut deplatziert wirken. Kein Becker, kein Bohlen. Auch kein Beckenbauer. Politiker wären ebenfalls fehl am Platz. Uschi Glas auch.

Der Geist der Revolte

Maximilian Schell, der mit wehendem Schal seiner Schwester Maria das vierte Viertel Wein auszureden versucht? Warum nicht. Joop? Nein. Lagerfeld? Ohne Claudia Schiffer, nur für einen Espresso, das dürfte das Ruffini aushalten. Reich-Ranicki, der sich in einer Ecke angeregt mit einer jungen Lyrikerin unterhält? Herzlich willkommen, schräger Alter! Da würde kein Mensch gucken.

Stünde das Ruffini in Frankfurt, würde hier die Neue Frankfurter Schule ein und aus gehen: Gernhardt, Henscheid, Waechter, Poth, Traxler usw. Ein bisschen schade, dass das Ruffini nicht älter ist. Oder Adorno nicht etwas länger gelebt hat. Dann hätte er sich bei einem Münchenbesuch hier mit Henze oder Habermas verabredet. Er hätte dagesessen, wäre nicht weiter aufgefallen, nur der eine oder andere Gast hätte gefunden: Der passt gut hier rein, der Adorno. Henze auch, auch mit Künstlerschal. Sie hätten leise über moderne Musik gestritten. Später wäre Joachim Kaiser dazugekommen, man wäre von Kaffee auf Wein umgestiegen, und es wäre erstaunlich laut gelacht worden.

Mit Habermas hätte Adorno zusammen mit einem Rundfunkredakteur ein etwas überdrehtes Gespräch über 68 und die Folgen geführt und dabei den Satz gesagt: Na, wenn der Geist der Revolte seine späte Manifestation in kollektiv geführten Kaffeehäusern wie diesem erfährt, dann war ja doch nicht alles umsonst. Später wäre dann ein Resümee des Gesprächs in einem Suhrkamp-Bändchen erschienen, und ein paar eingeweihte Schlauberger wüssten noch heute, dass der Anstoß zu einem Paradigmenwechsel der Frankfurter Schule das Frühstücksgespräch im Ruffini war.

Im Gegensatz zu Adorno könnte Thomas Bernhard das Ruffini noch erlebt haben – mir ist fast so, als hätte ich ihn Mitte der 80er-Jahre einmal in erstaunlich guter Laune hier sitzen sehen und zu einer erstaunlich gut aussehenden jungen Schriftstellerin sagen hören: Sympathischer Ort, da könnt man direkt seine Galligkeit verlieren.