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Archiv-Artikel

Im entscheidenden Moment Nein sagen

Joachim Gauck, Ex-Beauftragter für die Aufarbeitung der Stasi-Akten, trägt im Kölner EL-DE-Haus Gedanken zu den Voraussetzungen für Widerstand vor. Die Geschichten zweier unterschiedlicher Dissidenten unterfüttern seine Thesen

Köln taz ■ Wo fängt Widerstand an? Was macht den Widerständigen aus? Der Rostocker Pfarrer Joachim Gauck, bekannt als Gegner des DDR-Regimes und als Aufarbeiter der Stasi-Akten, stellte am Mittwoch Abend im Kölner EL-DE-Haus Ansätze einer Theorie des Widerstands vor: „Eigensinn – Protest – Widerstand. Oppositionelle Jugendliche in zwei deutschen Diktaturen“, so der Titel seines Vortrags. Zur Empirie trugen zwei in Ehren gealterte Widerstandskämpfer bei: Ex-Edelweißpirat Jean Jülich aus Köln und der ehemalige DDR-Volkspolizist Heini Fritsche aus der Nähe von Leipzig. Beide widersetzten sich der Obrigkeit, in Jülichs Fall war es der NS-, bei Fritsche der SED-Staat.

Ihre Geschichten beginnen zum gleichen Zeitpunkt, im Jahr 1929, mit recht unterschiedlichen Voraussetzungen: Jülich wird als Sohn eines kommunistischen Funktionärs und Arbeiters in Köln, Fritsche ins Gutbürgertum in der Nähe von Leipzig hinein geboren. Sein Vater, ein Kaufmann, tritt 1933 der NSDAP bei und meldet sich im August 1939 freiwillig zur Wehrmacht. Das gibt dem jungen Fritsche die Gelegenheit, bei seinem Großvater erste Widerstandsluft zu atmen. Denn der überlebt das Dritte Reich als SPD-Urgestein nur mit Hilfe eines sozialdemokratisch orientierten Kriminalrats.

Zur Hilterjugend geht Fritsche nicht. „Ich musste in zwei Welten leben. Das hat auch gehalten.“ Bis er als Abiturient einer neuen staatlichen Sortiermaschine gegenübersteht: In der soeben errichteten Sowjetischen Besatzungszone will die Führung das „klassenfremde Subjekt“ nicht studieren lassen. Fritsche fügt sich in die Polizeilaufbahn.

Bereits als 16-Jähriger ist er, dem Beispiel des Großvaters folgend, in die SPD eingetreten. Als Einziger seines Ortsvereins stimmt Fritsche 1946 gegen den Zusammenschluss mit der SED. „Der ist verrückt“, habe es da durch den Saal geraunt.

Diesen Widerstandsgeist trägt Fritsche weiter in eine Kaserne an der Ostsee. „Nach außen waren wir die Volkspolizei, doch in Wirklichkeit wurde die Sowjetische Besatzungszone wiederbewaffnet“, erzählt er dem Publikum im EL-DE-Haus. Um Fritsche bildet sich ein kleiner Kreis von Dissidenten, die zunächst den Westberliner Radiosender RIAS mit Informationen über die Pläne eines Angriffs auf Westdeutschland versorgt. 1951 fliegen sie auf. Fritsche wird zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach seiner Amnestierung 1955 geht er in den Westen.

Verrat als bewusste politische Tat hat Jean Jülich nie begangen. Sein „Vergehen“ als Edelweißpirat besteht in der einfachen Weigerung, sich vom NS-Regime und seinen Organisationen vereinnahmen zu lassen. „In der Hitler-Jugend mussten sie stramm stehen“, erzählt Jülich. „Bei und gab es keine Befehle und kein Strammstehen.“ Die Edelweißpiraten verstehen sich als unpolitische Gruppe von Jungs und Mädchen, die es mit den herrschenden Normen nicht so genau nehmen. „Ich habe nur meinen gesunden Menschenverstand benutzt“, sagt Jülich. Von den Nazis werden die Piraten dafür erbittert verfolgt. Schließlich verhaftet die Gestapo Jülich und seine „Ehrenfelder Bande“ und verbringen sie ins Gestapo-Gefängnis nach Brauweiler. Fünf seiner Freunde werden wenig später erhängt.

Gaucks theoretischer Rahmen zu den Geschichten von Jülich und Fritsche erinnert an das Werk des französischen Denkers Albert Camus. Der sah in der Möglichkeit zum „Nein“-Sagen das spezifische Wesensmerkmal des Menschen. Dass erst die Verweigerung des Unerträglichen dem Menschen seine Würde gebe, führt er in seinem Werk „Der Mensch in der Revolte“ aus. Obwohl selbst evangelischer Pfarrer, steht Joachim Gauck dem Atheisten Camus erstaunlich nahe: „Wir müssen eine Distanz zur Norm entwickeln“, fordert Gauck. Ein erster Schritt dazu sei, „sich nicht zu begeistern für Dinge, für die Begeisterung offiziell angeordnet wird“. Jean Jülichs Abneigung gegen die Hitler-Jugend gebe dafür ein Beispiel.

In Diktaturen behielten die Widerständler meist eine „Minimalloyalität nach außen“, stellt Gauck fest. Doch im entscheidenden Moment Nein zu sagen, hebe den Widerständigen heraus. So habe Fritsche bei seinem Nein zur Auflösung der SPD-Ortsgruppe eine Wahl gehabt und sie genutzt. Woher der Drang zur Verweigerung kommt, weiß auch Gauck nicht so genau. „Irgendeine renitente Großmutter braucht man wohl“, vermutet er. Oder eben Zeitzeugen, die plastisch erzählen können.

Sebastian Sedlmayr