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Archiv-Artikel

Tödliche Tradition

Ulerika Z. ist 16 und lebt in der Nähe von Tübingen. Sie lässt sich den Bauchnabel piercen und die Haare blond färben. Ihr Vater ist ein muslimischer Kosovo-Flüchtling. Im Gegensatz zu Tochter und Ehefrau hat er den Anschluss nie gesucht. Eines Tages bringt er seine Tochter um

AUS TÜBINGEN MARTIN BERNKLAU

Der Mordprozess begann vergangenen Mittwoch vor dem Tübinger Landgericht: Ein albanischer Familienvater soll im März seine 16-jährige Tochter „heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen“ umgebracht haben. Doch nicht nur dieser so genannte „Ehrenmord“ bewegt die Menschen. Die Hintergründe der Tat und ihre Folgen haben Hanife Gashi, die Mutter des getöteten Mädchens, inzwischen zu einer Art Symbolfigur gemacht. Es geht um Frauenrechte, und es geht um Integration.

Als am Mittag des 14. März 2003 eine Mädchenleiche in einem Baggersee beim Tübinger Ortsteil Hirschau gefunden wird, bildet die Kripo sofort eine 30-köpfige Sonderkommission. Schon am nächsten Tag wird unter dringendem Tatverdacht der Vater der 16-jährigen Ulerika verhaftet, ein Heizungsmonteur kosovarischer Herkunft aus der baden-württembergischen Gemeinde Kusterdingen.

Der Vater von vier Kindern hat seine älteste Tochter am Morgen beim nächstgelegenen Polizeiposten als vermisst gemeldet. Eine krude Überfallgeschichte samt Entführung durch angebliche türkische Freunde des Mädchens nehmen ihm die Beamten nicht ab. Der 42-Jährige gesteht bald, sein Kind in der Nacht zu Hause erdrosselt und die Leiche in den rund zehn Kilometer entfernten See geschafft zu haben.

„Familiäre Hintergründe“, heißt es zum Motiv. Die sehen so aus: Eine junge albanische Familie flüchtet 1989 mit Tochter aus dem terrorisierten Kosovo nach Deutschland. Sie kann bleiben und integriert sich – scheinbar. Die Eltern bekommen Arbeit und Wohnung, richten sich ein. Drei weitere Töchter werden in Deutschland geboren. Der Vater, als Asylbewerber geduldet, arbeitet bei einem Sanitärbetrieb, ganz legal und „fleißig, zuverlässig, unauffällig“, wie es zunächst heißt.

Vor Gericht wird dann doch eine gewisse Unberechenbarkeit und Aggressivität im Kollegenkreis zur Sprache kommen, vor allem wenn es um „die Serben“ geht. Das sind für den albanischen Muslim Latif Z. alle anderen Volksgruppen aus dem früheren Jugoslawien. Er hasst sie zutiefst.

Tradition und Respekt

Auch die Mutter findet Arbeit, nachdem die vier Töchter aus dem Gröbsten raus sind. In Kursen lernt sie perfekt Deutsch. Schon das passt ihrem Mann nicht. Zuletzt ist sie als Altenpflegerin bei der Gemeinde angestellt. Die Familie ist nicht arm. „Tag und Nacht“, so ein Kollege vor Gericht, schuftet Latif Z., auch mal privat, auch mal schwarz. Er ist kreditwürdig genug, um ein eigenes Haus für rund eine halbe Million Mark finanzieren zu können. Vor der Tür stehen zwei Autos.

Die Sprache erlernt der Mann nur bruchstückhaft. Dafür macht er im Keller seines Hauses einen Club für Albaner auf. Doch der wird von den kosovarischen Landsleuten immer seltener besucht. Die sprunghafte Aggressivität des Gastgebers, sein Fanatismus, sein Kreisen um Begriffe wie Tradition, Familie und Respekt schrecken wohl selbst die heimatverbundenen Getreuen nach und nach ab. Am Abend vor dem Mord kommt kein einziger Albaner in den Club.

Die Mutter fühlt sich in Deutschland offenbar recht bald zu Hause wie auch ihre älteste Tochter. Sie fördert ihre Älteste und sorgt dafür, dass sie aufwachsen kann wie die deutschstämmigen Kusterdinger Mädchen. Als „starke Persönlichkeit“ bezeichnen die Ermittler Ulerika später.

Das Kusterdinger Umfeld und ihre Tübinger Schule bestätigen das: Selbstbewusst war sie, begabt und beliebt. Schulische Probleme tauchen erst in Ulerikas letzten Lebensmonaten auf. Niemand weiß die Zeichen zu deuten. Auch die eingeschalteten Sozialbehörden nicht. Eigentlich hätte Ulerika sofort aus den Lebensumständen geholt werden müssen, die sich im Nachhinein als tödlich erweisen. Aber niemand wird aktiv.

Ulerika raucht, geht tanzen, trägt coole Klamotten, lässt sich den Bauchnabel piercen und die Haare blond färben, macht Schultheater, schreibt Gedichte und will Popstar werden. Die Mutter bringt sie manchmal heimlich in die Disco und holt sie wieder ab. Nur wenig von der familiären Schizophrenie dringt nach außen. Hanife Gashi wendet sich an die Behörden. Vor dem Familiengericht erwirkt sie ein partielles Hausverbot („rote Karte“) für ihren Mann, der immer öfter gedroht und auch zugeschlagen hat.

Latif Z. fügt sich, die öffentlichen Familienhelfer geben Ruhe. Wie er sich dabei fühlt: nur noch als Geduldeter, als gedemütigter Patriarch im „eigenen“ Haus. Er hat den Anschluss verpasst, den er nie wirklich wollte. Frau und Tochter lassen sich nichts mehr von ihm sagen. Doch vor einer radikalen Trennung schreckt Hanife Gashi zurück. Ohne das Geld ihres Mannes kann sie keine Existenz für sich und ihre Töchter bestreiten. Auch fürchtet sie die Rache seiner Familie: Sich eigenwillig vom Mann zu trennen ist ein todeswürdiges Verbrechen in der muslimischen Tradition albanischer Familien.

Eine Doppelhochzeit hatte das Leben der Frau bestimmt: Zwei Schwestern waren mit zwei Brüdern verheiratet worden, ohne ihre künftigen Männer zu kennen. Ein Familienvertrag. Die damals 17-Jährige fügte sich in die Zwangsheirat. Klaglos, vielleicht mit heimlichen Hoffnungen, ging sie mit Mann und Kind nach Deutschland, als der nach der Teilnahme an Studentenprotesten allen Grund für die Flucht in ein Land hatte, wo schon zwei seiner Brüder lebten.

Spätestens als Ulerika, die in der Fremde aufgewachsene Tochter, sich 13 Jahre später verliebt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Sead, ihr Freund, ist für den Vater nur „Halbalbaner“, er hat eine bosnische Mutter. Ist einer von den „Feinden“. Dass das junge Liebespaar mit Hilfe der Mutter an Weihnachten sogar zum gemeinsamen Urlaub in den Kosovo fliegt, erfährt der isolierte Vater zunächst nicht. Aber er findet ein Foto der eng Umschlungenen, das möglicherweise der Auslöser für einen geplanten Mord ist, der aber ebenso gut die Ehefrau hätte treffen können.

„Nie“, sagt Latif Z. vor Gericht, hätte er der Verbindung zugestimmt, eher hätte er „sich umgebracht“. Seinen prinzipientreuen Fanatismus versteckt er nicht. Und er beteuert mehrfach, alle seine Töchter innig geliebt zu haben, auch die fremd gewordene Ulerika, die sich seinem Anspruch nicht mehr unterordnet. Nur seine Frau habe ihm „Probleme gemacht“. Er hat sie wohl heimlich verfolgt und hellhörig auf die leisesten – und falschen – Ehebruchgerüchte reagiert.

Ob Latif Z. den Mord an seiner Tochter geplant hat – wofür die Staatsanwälte einige Indizien zusammengetragen haben – oder ob es eine Tat im Affekt nach einem der immer häufiger gewordenen Streits war, will das Gericht noch vor Weihnachten entscheiden.

Hanife Gashi ist unter der Obhut von „Terre des Femmes“, eines Tübinger Vereins für Frauenrechte, nicht nur lokal an die Öffentlichkeit gegangen. Vor drei Wochen war sie bei einer Gedenkdemo für ihre Tochter in der Tübinger Innenstadt zugegen, die „Terre des Femmes“ initiiert hatte. Vergangene Woche war sie aber auch in Günther Jauchs „Stern TV“ zu Gast. Hanife Gashi spricht klug und sanft. Sie ist eine intelligente und hübsche Frau – weder fanatisch noch aufreizend. Ihre Geschichte hat sie nicht teuer an RTL verkauft. Mehr als das übliche „Stern TV“-Honorar von 1.000 Euro soll nicht geflossen sein.

Die Mentorinnen von „Terre des Femmes“ haben Gashi zu einem Exempel gemacht, das über den Mord an ihrer Tochter hinausgeht: Das beginnt bei der „Zwangsverheiratung“ und führt über die gemeinsam mit ihren Töchtern ertragene eheliche Männergewalt bis hin zum „Ehrenmord“ an ihrer ältesten Tochter.

Latif Z. hat am ersten Prozesstag eine beunruhigende Aussage gemacht: Er selbst könne ja im Gefängnis nichts tun. Daher müsse sich nun Latifs albanische Familie um den Freund seiner toten Tochter, jenen Sead, den er offenbar nur von einem kontrollierenden Anruf her kannte, „kümmern“. Das kann man als Drohung verstehen. Der Wahn von Latif Z. ist mehr als ein womöglich schuldmindernder Umstand. Das sollten alle Beteiligten ins Kalkül ziehen.