: Ukrainer aller Bänder – einig
In Charkiw, Ostukraine, werden viele politische Farben offen am Arm getragen. Nicht alle wollen den Anschluss an Russland
AUS CHARKIW SILKE ERDMANN
„Ich brauche weder den einen noch den anderen. Ich brauche meine Ruhe.“ Anna K., Studentin der Pädagogischen Universität, gehört zu den Bewohnern Charkiws, die keine farbigen Bänder tragen. Sie ist damit keine Ausnahme, aber um sie herum fallen orangefarbene, blaue, weiße und seit Mitte der Woche auch rote und grüne Bänder in immer größerer Anzahl auf.
Die roten Bänder von den Kommunisten, die auf dem Platz ab und zu zwischen den blauen und den orangefarbenen Platzhälften stehen, die grünen Bänder von der Grünen Partei der Ukraine, die eindeutig für Juschtschenko Stellung beziehen.
Alles friedlich, die Polizei lächelt und isst Sonnenblumenkerne, raucht, während schon mal ein paar Blaue zu den Orangenen gehen oder umgekehrt, um dort mal zu gucken, was passiert. Der Oberbürgermeister Wladimir Schumilkin muss sich keine Sorgen machen. Er verhält sich neutral, hindert niemanden an der Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. Alles ruhig. Aber dann erscheint ein wütender Ewgeni Kuschnaryow in den Medien. Mit den Armen fuchtelnd erklärt der Gouverneur der Charkiwer Region die Autonomie des Südostens und ernennt Charkiw auch gleich zur Hauptstadt. Der eher unbeliebte Staatsmann ist treuer Janukowitsch-Anhänger, den man für diese Treue vielleicht nicht einmal bezahlen muss. Im Gegensatz zu den blauen Demonstranten, die 160 Griwna pro Tag fürs Demonstrieren erhalten sollen. Dies hört man immer öfter, auch wenn die „Gehaltsangaben“ schwanken.
Wie reagiert Charkiw darauf, bald vielleicht Hauptstadt zu werden? Schumilkin bewahrt weiterhin neutrale Position und erteilt dem Gouverneur eine klare Absage. Diese Nachricht kommt nicht in den Medien der staatstreuen Sender, nur die Autonomieerklärung. Die Bewohner sind verunsichert. Wenn man auch immer die eine oder andere Differenz mit der Westukraine hatte, sich selbst teilweise nicht als Ukrainer betrachtet, nicht als echten zumindest, so ist man an einer Teilung doch nicht interessiert.
„Wir sind ein Land, wir sind ein Volk. Ich will meine Ukraine nicht verlieren.“, sagt Julia S., Englischlehrerin in einem Vorort Charkiws. Sie trägt ein blaues Band. Sie mag Juschtschenko nicht. Aber sie mag ihre Heimat.
Angst haben viele. Davor, dass die Ukraine unter Juschtschenko Amerika unterstellt wird. Angst, dass alle Beziehungen zu Russland abbrechen. Angst vor einem dritten Weltkrieg. Die älteren Leute können sich noch zu gut an den Zweiten erinnern.
Viele Ängste sind durch geschickte Medienkontrolle seitens der amtierenden Regierung entstanden. „Amerika hat Georgien zerstört, hat die Tschechoslowakei zerstört. Weißrussland wollten sie auch zerstören, aber sie haben es nicht geschafft. Weil die Leute zu ihrem Präsidenten gehalten haben“, sagt Pjotr L., Hausmeister.
Und nicht nur er überrascht mit solchen Ansichten, auch Dozenten der Universitäten sind dieser Meinung. Wenn man sich die regierungsgelenkten Kanäle und die Zeitungen anschaut, so ist das kein Wunder, gezielte Falschmeldungen und zurechtgebogene Darstellungen der Weltgeschehnisse muss man nicht lange suchen.
Die Verunsicherung in Charkiw wächst, politische Gespräche kann man überall beobachten, gar belauschen. Man spricht die Dinge aus und spricht sie auch laut aus, egal welches Band man an der Jacke trägt.
An jedem Abend versammeln sich um 17 Uhr die Juschtschenko-Anhänger auf dem Platz der Freiheit. Okean Elsi, die vor allem in der Westukraine beliebte Band, die sich schon im Wahlkampf für Juschtschenko gestellt hat, war hier und hat gespielt, für die Charkiwer, für die Ostukrainer. Ein gutes Zeichen aus dem Westen. Das erste Zeichen, das dem Osten sagt: „Wir nehmen euch ernst! Wir sehen, dass ihr mit uns seid!“
Die Karasin-Universität bleibt ebenfalls neutral. Studenten aller Bänder werden eingelassen, am Eingang hängt ein Plakat, auf dem steht, dass alle politischen Aktivitäten friedlich ablaufen sollen, dass die Universität für die Demokratie ist und die Studenten dies berücksichtigen sollen und die Anwendung von Gewalt nicht zu billigen ist.
Keine Anweisung zum Demonstrieren, weder für Janukowitsch noch für Juschtschenko. Auch kein Verbot, keine Exmatrikulationsdrohungen. Nur die Bitte um Friedlichkeit. Das Plakat hat einen blau-gelben Rahmen, die Landesfarben der Ukraine. Es wirkt ein bisschen wie ein beruhigendes Symbol.
Und dennoch ist die Stimmung nicht ganz so leicht in Worte zu fassen, denn die Verunsicherung ist zu groß, die Darstellungen der Situation im Land zu sehr von der Regierung gelenkt.
Man weiß nicht, ob es tatsächlich richtig ist, dass man auf die Straße geht, noch weniger weiß man, ob es lohnt. Seit über einer Woche weiß man nicht, was am nächsten Tag kommen mag, man weiß nicht, welchen Nachrichten man trauen soll.