Berlin, mach hoch die Türen!

Traurig, aber wahr: Der Adventskalender ist eine Erfindung der Industrie. Doch muss es die Regel sein, dass man hinter viel versprechenden Türchen nur öde Schokoplätzchen findet? Nein, sagt die taz. Unser Adventskalender öffnet ab heute täglich eine Pforte, hinter der etwas Besonderes steckt

von PHILIPP GESSLER

Alljährlich zur Weihnachtszeit geht’s ans große Mythenzerplatzen: Jesus ist gar nicht übers Wasser gelaufen, der Nikolaus kommt rot bemantelt daher, weil Coca-Cola eine Figur mit rotem Mantel populär gemacht hat, und die Heiligen Drei Könige waren eigentlich Magier – und wahrscheinlich gab es sie eh nicht. Dieser schönen Tradition folgend, will die taz heute einen weiteren Mythos platzen lassen, hart zu sich selbst, hart zu Ihnen: Der Adventskalender ist eine Erfindung der Industrie!

Geschockt? Na ja, 1902 soll es immerhin eine evangelische Buchhandlung in Hamburg gewesen sein, die den ersten gedruckten Adventskalender herausgegeben hat – wenn auch in der Form einer Weihnachtsuhr. Erst um 1920 erschienen Adventskalender mit Türchen zum Öffnen auf dem Markt. Seitdem versüßen uns morgendliche Schokolädchen die dunkelste Zeit des Jahres – was gänzlich dem ursprünglichen Sinn der Vorweihnachtszeit widerspricht.

Denn früher war in der Vorweihnachtszeit Fasten angesagt. Schließlich soll uns der Advent, wie das lateinische Wort „adventus“, also Ankunft, schon sagt, auf das Kommen von Jesus Christus zu Weihnachten vorbereiten – womit Nichtchristen im „gottlosen Berlin“ natürlich wenig anfangen können. Schon im 4. Jahrhundert wurde Advent unter anderem mit Fasten begangen, im 5. Jahrhundert forderte Bischof Perpetuus von Tours sogar eine achtwöchige Fastenzeit vom 11. November bis zum 6. Januar. (Sage bloß einer, es gebe keinen Fortschritt in der Religion!)

Aber wir wollen hier nicht zu christlich werden, um keine Leserin und keinen Leser zu verschrecken: Die taz macht bis Weihnachten jeden Tag eine Tür in der Stadt auf, um zu zeigen, was dahinter steckt, und da ist das Leben sehr bunt: Es wird um Dekadenz gehen, um Kinderträume, um Krieg, Politik, Vermieter, Tod, Fitness, Tiere, Geld, Anarchie, Sport, Kunst, Knast, Mord, Prozesse, Glauben, Polizei, Sex, U-Bahnhöfe, Mönche und etwas ganz Existenzielles – mehr wird nicht verraten.

Hilft uns das, uns auf Weihnachten vorzubereiten? Nein, eigentlich nicht, denn die Türen werden uns in eine Stadt führen, die vieles ist, lebhaft, schrill, kontrastreich – und nur selten besinnlich. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) versucht dagegen verzweifelt, noch etwas Besinnlichkeit der Vorweihnachtszeit zu retten, indem sie vor wenigen Tagen eine Kampagne mit dem sinnigen Titel „Alles hat seine Zeit. Advent ist im Dezember“ initiiert hat. Es soll gegen einen zu frühen Adventsrummel gehen. „Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wichtig Rhythmen und Rituale sind“, erklärte die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann.

Dumm nur, das der EKD-Ratsvorsitzende, der hiesige Bischof Wolfgang Huber, schon vor einer Woche die Weihnachtsbeleuchtung bei Wertheim in Gang gesetzt hat – und damit offiziell die vorweihnachtliche Konsumzeit einläutete. „Es werde Licht“, ein etwas anmaßender Schöpfungsakt. Doch genug davon, wir wollen ja nicht zu besinnlich werden!

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