Melodramatisch, dokumentarisch, schräg und komisch: die 16. Lateinamerika-Filmtage im 3001
: Der weiße Zug

Der Eröffnungsfilm El abrazo partido beginnt mit verwackelten Bildern, ohne Stativ und mit schnellen Schritten geht es durch ein kleines Einkaufszentrum im Zentrum von Buenos Aires. Im Bild der Hinterkopf von Ariel Makaroff, der die LadenbetreiberInnen kurz vorstellt. Er hilft im Geschäft seiner Mutter für Damenunterwäsche. Es gibt auch einen Frisör, eine Reparaturwerkstatt, eine Bar, einen Import/Export. Die Geschäfte laufen schlecht, die Wirtschaftskrise ist zu spüren. Bei 45 Prozent Arbeitslosigkeit wird wenig gekauft.

Ariel versucht, wie viele andere ArgentinierInnen auch, den Pass des europäischen Landes zu bekommen, aus dem seine Familie eingewandert ist. Als er die Papiere von seiner Großmutter haben will, versucht die, ihren Pass zu verbrennen. Sie konnte sich vor der Shoah aus Polen retten. Das Einkaufszentrum liegt mitten im Stadtteil Once, „11“, neben der Synagoge. In Buenos Aires lebt die größte jüdische Gemeinde Lateinamerikas.

In El abrazo partido ist jüdisches Alltagsleben mit einer Selbstverständlichkeit zu sehen, die für Deutschland unvorstellbar ist. Die eigentliche Spielfilmhandlung dagegen ist recht banal, es geht um das Verhältnis von Ariel zu seinem Vater, der nach Israel ging, als er ein Baby war. Die patriarchale Moral, welche Ariel propagiert, der dazu auch nur seine eigenen Probleme sieht, führt zu einem machistischen Ende.

Wegen der Darstellung des jüdischen Alltags in Buenos Aires ist der Film jedoch sehenswert. Regisseur Daniel Burman, selbst in El Once aufgewachsen, sagt: „Ich versuche den Weg zu zeigen, der zur Konstruktion einer Identität führt, die auf kleinen Anekdoten, Tragödien und komischen Erlebnissen ebenso basiert wie auf Wahrheiten und Lügen.“

Wenn in dem Einkaufszentrum die Lichter ausgehen, fängt für die ProtagonistInnen von El tren blanco die Arbeit an. Der Dok-Film begleitet cartoñeros, Kartonmenschen, dabei, wie sie im Müll von Buenos Aires nach Verkaufbarem, Recyclebarem wie Karton suchen. Jeden Abend um 18 Uhr fährt der weiße Zug aus den Vororten ins Zentrum. Alte, demolierte Waggons wurden weiß angemalt, fertig war die Extra-Linie. Mittlerweile ist der Andrang so groß, dass ein zweiter Zug eingesetzt werden soll.

Das Filmkollektiv von El tren blanco gibt den cartoñeros die Möglichkeit, für und über sich selbst zu sprechen. Es verzichtet auf jeden Kommentar. In mehreren Episoden begleiten sie cartoñeros auf ihren nächtlichen Arbeitstouren und interviewen sie, wie Alberto: „Ich habe so etwas noch nie zuvor gemacht: Einen Müllsack zu öffnen, zu durchwühlen und auszusuchen – das war ein Schock. Ich glaube aber, dass es mehr Würde hat, so etwas zu tun, als zu stehlen.“ Oder Hector: „Manchmal hast du noch nicht einmal Geld, um Brot zu kaufen... Ich bin seit 14 Jahren Witwer und ich arbeite, damit meine Kinder etwas essen können.“

Die Stärke des Films ist die Nähe zu den ProtagonistInnen, die Unmittelbarkeit: „Von Anfang an benutzten wir die Kamera dazu, ohne jede Ablenkung die Erlebnisse dieser Menschen zu erzählen und versuchten dabei als Unparteiische die Realität so klar wie möglich herauszufiltern“, sagen die FilmmacherInnen Nahuel García, Sheila Pérez Giménez und Ramiro García. Um die Akzeptanz der cartoñeros zu erlangen, mussten sie sehr lange drehen. Der Film hat dadurch nur gewonnen.

Gaston Kirsche

„El abrazo partido“: Do + So, 21 Uhr, Sa, 23 Uhr; „El tren blanco“: Fr, 21 Uhr, So, 23 Uhr, 3001. Alle Termine unter www.cinelatino.de