: Die Rettung eines Fossils
Der europäische Stör steht kurz vorm Aussterben. Nur noch wenige Exemplare des Dreimeterfisches sind in freier Wildbahn zu finden. Das Berliner Institut für Gewässerökologie will die seltenen Tiere wieder in Flüssen wie Rhein und Elbe ansiedeln
VON SILVIA HELBIG
Draußen, in der Herbstsonne döst eine Ringelnatter. Drinnen, in der Halle mit den vier mannshohen Aquarien ziehen die Störe ihre Runden. Gleichmäßig, ohne sich in die Quere zu kommen. Von unten sehen die Tiere aus wie kleine Haie. Wenn man bedenkt, dass die größten dieser Fische bis zu fünf Meter lang werden können, möchte man ihnen lieber nicht beim Schwimmen begegnen. Aber der Stör ist nicht gefährlich, sondern gefährdet.
Rund 200 Millionen Jahre hat er alles überlebt – bis ihm der Mensch beinahe den Garaus gemacht hätte. Während vor hundert Jahren die in Nord- und Ostsee lebenden Störe noch zum Laichen die deutschen Flüsse hinaufschwammen, galt der Fisch vor zehn Jahren in Europa mit wenigen Ausnahmen, in der französischen Gironde, als ausgestorben. Die 27 Tiere, die im Berliner Institut für Gewässerökologie leben, gehören zu den letzten einer Art, die der Mensch nun zu retten versucht.
Professor Frank Kirschbaum ist der Leiter des Projekts zur Wiederansiedlung des Störs. Das Ziel ist, dass der Stör wieder wie in früheren Zeiten eine Heimat in der Elbe und dem Rhein bekommt. Kirschbaums Bemühungen ist es zu danken, dass kleine Störe der letzten frei lebenden Population aus der französischen Gironde 1995 in das Institut am Berliner Müggelsee kamen. Seitdem wird alles versucht, die Tiere bis zur Geschlechtsreife zu bringen, damit sie Nachkommen zeugen. Nicht ganz einfach: Die Fische sind von ihrer Ernährung höchst kompliziert. „Wir füttern Mückenlarven, das normale Futter, dass junge Tiere auch in Freiheit fressen. Langsam müssten sie größere Organismen zu sich nehmen. Die verschiedenen Krebsarten, die wir ausprobiert haben, wollten sie aber zunächst nicht“, berichtet Kirschbaum über die Feinschmecker, die sich im konstant 20 Grad warmen Wasser tummeln. Mittlerweile aber fressen sie auch Sandgarnelen.
Der Stör, der hier gerettet werden soll, ist der europäische Stör. Nicht zu verwechseln mit dem russischen Stör aus dem Kaspischen Meer, der den Kaviar liefert. Weltweit gibt es 27 Störarten. Die Eier drei dieser Arten eignen sich als Delikatesse: vom russischen Stör, vom Sternhausen und vom Hausen, der mit bis zu acht Meter Länge der Riese in der Knorpelfischfamilie ist. Alle Arten sind bedroht.
Durch die Industrialisierung der Fischerei verendeten die Tiere zu Beginn des 20. Jahrhunderts massenhaft in den Fangnetzen. Da die Jungfische etwa zehn Jahre brauchen, um geschlechtsreif zu werden, fehlte schnell der Nachwuchs. Zumal immer mehr künstliche Dämme in den Flüssen die Laichwege des Störs stoppten. Die Störfänge wurden seit 1930 immer seltener, ab den 60er-Jahren blieben sie ganz aus.
Vereinzelte Tiere, die heutzutage geangelt werden, seien ganz sicher keine europäischen Störe, versichert der Biologe Kirschbaum. Immer wieder entkommen andere Störarten aus Aquakulturen in natürliche Gewässer. Sibirische Störe, die auch hier versuchsweise für die Kaviarproduktion gezüchtet werden. Oder Zierstöre, die das Aquarium sprengen, weil die Käufer nicht bedacht haben, wie groß diese Fische werden können. Der europäische Stör hingegen wäre beinahe für immer abgetaucht, wenn man nicht 1992 bei der Konferenz der UN über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro beschlossen hätte, dass Artenvielfalt ein wertvolles biologisches Gut sei. Damit setzte eine Sensibilisierung für das Thema ein. Man erkannte, dass es Sinn macht Tiere und Pflanzen dieser Welt zu schützen. Wissenschaftler verschiedener Institutionen gründeten 1994 die Gesellschaft zur Rettung des Störes, „um das doch sehr beeindruckende Tier vor dem Aussterben zu retten“, begründet Kirschbaum diese Initiative. Tatsächlich sieht der Stör eher nach Fossil als nach Fisch aus. Schnabelnase und Panzerplatten erinnern daran, dass es Störe schon zu Dinosaurierzeiten gab. Über dem zahnlosen Saugmaul sitzen vier Barthaare, die das ungewöhnliche Äußere betonen.
Problematisch bei dem Projekt, den Stör zu retten, ist, dass man kaum etwas über die Tiere weiß. Weder Sozial- noch Paarungsverhalten sind erforscht. Selbst das Geschlecht ist von außen nicht zu erkennen. Nur dass die Störe, wie Wale und Fledermäuse über eine ausgeprägtes Ultraschallsystem verfügen, ließ sich bisher feststellen. Die Störe im Berliner Institut sind mittlerweile über einen Meter lang. Jeder Fisch ist mit einem kleinen Gerät in der Muskulatur markiert. Alle zwei Wochen werden die Tiere gewogen und gemessen. Doch tauchen Krankheiten auf, ist man auch hier ratlos.
Ein Fisch liegt in einem extra Becken. Er schwimmt auf dem Rücken und kann sich nicht allein umdrehen. „Plötzliche Gleichgewichtsstörungen“, lautet die Diagnose. Weshalb, ist unklar. Auch, ob das Projekt der Wiederansiedlung des Störs überhaupt gelingen wird, kann Professor Kirschbaum nicht garantieren: „Dafür müssen die Bedingungen, die zum Aussterben geführt haben, geändert werden. Die Fischerei muss andere Fangmethoden verwenden. Die ökologischen Rahmenbedingungen der Flüsse haben sich schon substanziell verbessert. Beim Bau neuer Fischtreppen beginnt man nun auch an die Bedürfnisse der Störe zu denken. Parallel zu unserer Forschung machen wir dafür Öffentlichkeitsarbeit.“
Fachlich unterstützt und finanziert wird das Projekt Rettung des europäischen Störs bis Ende 2003 vom Bundesamt für Naturschutz. Rund eine Million Euro hatten die Berliner Biologen in den letzten vier Jahren zur Verfügung, um ihre Zucht- und Forschungsgruppe der empfindlichen Störe hochzupäppeln. Wenn diese Gruppe in ein, zwei Jahren endlich geschlechtsreif ist und ablaicht, soll deren Nachwuchs ausgewildert werden. Bis dahin gilt es ausdauernd füttern, wiegen und hoffen, dass dieses interessante Fossil irgendwann in hiesige Gewässer zurückkehren wird.