: Jahresendschmöker
Lesen lassen: Hamburger BuchhändlerInnen empfehlen Lektüre nicht nur für den Weihnachtsbaum
Bizarre Morde
Jens Bergmann: Der Hundemörder. Book on Demand, 108 Seiten, 8,59 Euro
Der Mörder kämpft für die Gerechtigkeit, der Kommissar gegen den Durst, der Assistent um einen Platz an der Sonne. Als Hauptfiguren agieren sie in Jens Bergmanns Kriminalgroteske „Der Hundemörder“, einer furiosen Satire auf das Serienkiller-Genre mit viel Hamburger Lokalkolorit.
Die Story: Dem großen Unbekannten fällt ein Schäferhund nach dem anderen zum Opfer. Die bizarren Morde kommen dem Chefredakteur des lokalen Boulevardblatts gerade recht, der zur Hatz auf den Verbrecher bläst und die Polizei zwingt, Flagge zu zeigen. Dieter Trotzke von der Mordkommission macht sich allerdings nur widerwillig an die Arbeit, weil er erstens kein Herz für Tiere hat und zweitens von Natur aus faul ist.
Bergmanns Debüt ragt dank der skurrilen Figuren, komischen Dialoge und einem verblüffenden Plot aus dem Krimi-Einerlei heraus. Und ist Pflichtlektüre für alle Hundehasser.
Udo Aschenmeyer von Heiner K. Krimis & Konsorten, Weidenallee 60, Tel.: 45 92 54
Kühne Rekonstruktion
Soazig Aaron, Klaras Nein. Eine Tagebuch-Erzählung, 188 Seiten, Friedenauer Presse 2003, 19,50 Euro
Angelika schreibt das Tagebuch der Erinnerungen an die fünf Wochen im Sommer 1945, als ihre Schwägerin und Freundin Klara zurückkam. Diese, eine deutsche Jüdin, hat Auschwitz überlebt. Auf einer langen Reise quer durch das zerbombte Europa hat sie sich langsam ihren Freunden in Paris genähert. Dort angekommen, weigert sie sich, ihre kleine Tochter zu sehen, die sie vor ihrer Deportation bei den Freunden zurückließ. Diese klare Entschlossenheit neben einer gleichzeitigen vollkommenen Verstörtheit beunruhigen die Freunde.
Als Klara nach und nach ihr „tiefes Schweigen“ bricht und bruchstückhaft von den Verletzungen und schrecklichen Erfahrungen während der Zeit im Lager erzählt, wird immer verständlicher, warum sie nach dieser Stippvisite Europa für immer den Rücken kehren will, und warum es so schwer ist, als Überlebende weiter zu leben.
„Ein Roman, auf den ich gewartet habe, das erste starke, unvergessliche Zeichen der Kraft eines fiktiven literarischen Versuchs, sich an die kühne und bescheidene Rekonstruktion unserer innersten Erfahrung der Vernichtung zu wagen, die auch ihre Rettung ist“, schreibt Jorge Semprun im Vorwort.
Kollektiv Buchladen in der Osterstraße, Osterstraße 171, Tel.: 491 95 60
Luther spannend
Luther Blissett, Q. Serie Piper, 799 Seiten, 12,90 Euro
Vier junge Autoren aus Bologna haben unter dem gemeinsamen Pseudonym „Luther Blissett“ einen rasanten Roman über die Zeit der Reformation in Europa geschrieben. Wer einen anderen Blick auf die Zeit Luthers sucht als den des laufenden Kinoereignisses, erlebt die Jahrzehnte der Aufstände und Hoffnungen an der Seite eines von Luther enttäuschen Theologiestudenten, der sich durch die Kämpfe und Hoffnungen dieser Zeit schlägt. Immer verfolgt von Q, dem päpstlichen Spion, dessen Auftraggeber Carafa später selber unter dem Namen Paul IV. Papst wird. Spannender lässt sich Geschichte von unten kaum erzählen.
In der Serie Piper ist im November die Taschenbuchausgabe erschienen.
Kollektiv Buchhandlung im Schanzenviertel, Schulterblatt 55, Tel.: 430 08 08
Poetische Prosa
Kader Abdolah, Die geheime Schrift. Klett Cotta, 367 Seiten, 22,50 Euro
Abdolah gelingt eine selten schöne Kombination: Er schreibt einen sehr poetischen Roman, der zugleich das politische Gedächtnis wach hält. Fast wie ein großes Gedicht und doch auch spannend erzählt der Autor die Geschichte seines Vaters und seine eigene. In einem kleinen Dorf in Nordpersien wird er als Sohn eines Teppichknüpfers geboren. Der Vater ist taubstumm und lernt, sich mit Gebärden zu verständigen. Abdolah erzählt über den Beginn der Modernisierung durch den Schah, die Hoffnungen der Menschen auf Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, die Enttäuschung, die beginnende Politisierung, den Sturz des Schahs und den noch größeren Schrecken – die Mullahs, Khomeini. Als junger Student muß Abdolah fliehen.
Der zuerst auf Niederländisch erschienene Roman in seiner verdichteten Sprache zeigt ebenso den Schmerz und die Sehnsucht von Emigranten wie das Leben eines Taubstummen in einem fast mittelalterlichen Dorf.
Elke Ehlert, Bea Holtmann von Seitenweise. Bücher in Hamm, Hammer Steindamm 119, Tel.: 20 12 03
Das ganze Bild
Thorwald Proll/Daniel Dubbe, „Wir kamen vom anderen Stern“. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus, Edition Nautilus, Hamburg 2003, 125 Seiten, 9,90 Euro
Daniel Dubbe und Thorwald Proll zeichnen im Gespräch ein starkes Bild von dessen Freund Andreas B., der als Staatsfeind immer zu einseitig der Öffentlichkeit verkauft wurde. Proll antwortet auf Dubbes lakonische und leicht hintergründige Fragen in diesem – auch äußerlich – sehr schönen Interviewbuch „auf einfache, aber nie vereinfachende Art“ (Oliver Tolmein, Konkret) mit beeindruckender Offenheit.
P. S.: Wer den Autor Thorwald Proll in der Nautilus Buchhandlung antrifft, bekommt das gekaufte Exemplar signiert.
Nautilus Buchhandlung, Friedensallee 7–9, Tel.: 39 51 76
Klug und erotisch
Sarah Waters, Solange du lügst. Rütten und Loening, 624 Seiten, 24,90 Euro
Gerade haben wir – und unsere Kundinnen – die ersten Romane von Sarah Waters: „Die Muschelöffnerin“ (gerade mit großem Erfolg als „Tipping the Velvet“ auf den lesbisch-schwulen Filmtagen gelaufen) und „Selinas Geister“ mit Begeisterung zu Ende gelesen, schon ist er da: Ihr neuester Roman „Solange du lügst“ ist eine Mischung aus Charles Dickens und Daphne du Maurier. Ein Buch voller Spannnung, das einlädt in die Welt des viktorianischen Englands abzutauchen.
Erzählt wird die Geschichte einer jungen Diebin, die von ihrer Angebeteten in mehrfacher Hinsicht verführt wird. Ein Buch voller überraschender Wendungen und Intrigen, intelligent, erotisch und eine durchaus ungewöhnliche Liebesgeschichte. Lesevergnügen garantiert!
Frauenbuchladen-Team, Bismarckstraße 98, Tel.: 420 47 48