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Archiv-Artikel

Berliner Studenten fliehen nach Polen

Mit einem „Antrag auf Bildungsasyl“ ziehen Osteuropa-Studenten aus ihren vorsintflutlichen Hörsälen über die polnische Grenze. Dort weht der Wind allerdings auch recht kalt, das Hochschulsystem ist wesentlich verschulter als in Deutschland

VON ANNA LEHMANN

Russische Volksweisen erschallen im hinteren Zugabteil des R1 nach Frankfurt (Oder). Die Melodie kommt aus einer Kompaktanlage, die Edward Klimczak gehört, der mit Schapka und gewürfelten Hosen in der Mitte des Waggons steht und die Hand mit einem Liedtext dirigierend auf und ab bewegt. Der Dozent für russische Sprache an der Freien Universität ist es gewohnt, seine häusliche Medientechnik durch die Gegend zu kutschieren. Will er den Studenten einen Film zeigen, dann holt er einen funktionierenden Videorekorder von zu Hause, bitten ihn die Studenten, mitzumachen bei ihren Streikaktionen, dann mobilisiert er die Hi-Fi-Anlage. Deren Idee, ins vermeintlich arme Polen auszuwandern und dort um „Bildungsasyl“ zu bitten, begrüßt der gebürtige Pole, da er seinerzeit dort unter wesentlich besseren Bedingungen studieren konnte. „Wir waren zwölf Leute in der Sprachgruppe“, schwärmt er. Im reichen Deutschland unterrichte er 35 Studienanfänger und kämpfe mit vorsintflutlicher Technik. Diese steht seit einem Vierteljahrhundert in den Sprachlabors der FU - ein Mahnmal für ein ehemals führendes und modernes Spracheninstitut.

Studenten und Dozenten des Osteuropa-Instituts sehen sich in dem als Drehscheibe nach Osten gepriesenen Berlin aufs Abstellgleis geschoben. Zusammen mit Studenten von der HU und aus Potsdam machen sie sich deshalb ins nahe gelegene Polen auf, in der Hoffnung, dort wohlwollend empfangen zu werden. Sie deklarieren ein Abteil zum „Osteuropa-Express“ und halten sich ihre Sprachkurse selbst. „Proszimy o azyl nauki“ - „Wir bitten um Bildungsasyl“, „Prosze piwo“ - „Bitte ein Bier“, „Dzie kuje“ - „Danke“.

Olaf Matthei ist einer der vier deutschen Polonistiker seines Jahrgangs, die an der FU durchgehalten haben. „Es ist als Nichtmuttersprachler ungeheuer schwierig, Polnisch zu studieren. Es gibt kaum Sprachunterricht. Ich habe jede Menge Geld in Kurse außerhalb der Uni investiert.“ 200 bis 600 Euro seien durchaus üblich, bestätigen die umsitzenden Kommilitonen.

“Unseren Studenten geht es offenbar noch zu gut“, meint eine Studentin aus Frankfurt (Oder). Sie schiebt ihr Fahrrad neben dem kleinen Demonstrationszug her, der sich inzwischen formiert hat und folgsam hinter einem Polizeiauto her zur polnischen Grenze trabt. Die Ausreisenden sind in der Stadt an der „grünen Grenze“ dem Zug entstiegen und mit einem Häuflein Studenten von der Europa-Universität Viadrina verschmolzen. Da gerade Mittagspause sei, müssten eigentlich mehr Leute da sein, ergänzt das Mädchen. Von Kürzungen sei hier noch nicht so viel zu spüren, nur hie und da gebe es Bemerkungen eines Professors, dass sein Stuhl nach seinem Weggang wohl frei bleiben werde.

“So schleichend begann es an der HU auch“, berichtet Agnes Pahle. Als sie vor drei Semestern ihr Bulgarischstudium aufnahm, drängte der Professor: „Beeilt euch, nach mir kommt niemand mehr.“ In einem Jahr müsste sie, die erst vor der Zwischenprüfung steht, fertig werden, wollte sie das Studium beenden. Sonst bliebe ihr nur, das Fach zu wechseln oder sich eine neue Universität zu suchen. Etwa in Polen.

Die Studenten stehen vor der Brücke, die sich über die Oder nach Slubice schwingt, und werden von müßigen BGS-Leuten fotografiert. Am Grenzübergang wartet Krzystof Wojcichowski. Der Direktor des deutsch-polnischen Kollegiums Polonikum spricht den Studenten sein Beileid aus: „Ihr seid Opfer einer falschen und dilettantischen Bildungspolitik.“ Das deutsche Hochschulsystem habe Anfang der 90er-Jahre noch einen fast mythischen Ruf genossen, berichtet er. Dieser Ruf sei am Zusammenbrechen. Und so lädt er die Deutschen ein, in Polen zu studieren. Allerdings habe das polnische Studiensystem auch seine Haken. Nur die Besten dürfen die Privilegien der kostenlosen Hochschulausbildung in Anspruch nehmen. Wer durch den Eignungstest fällt, muss bezahlen. Das System werde von den Beteiligten als gerecht empfunden, meint Wojcichowski. Es sei strenger, verschulter aber effizienter. In Polen heißt studieren lernen, lernen und manchmal Party machen. Politik wird an den Universitäten kaum getrieben, kein Flugblatt, kein Demoaufruf verunziert die Universitätsflure. So ernst ist es den Deutschen denn doch nicht mit dem Asyl. Sie rollen ihre Transparente zusammen und gehen über die Grenze zum Einkaufen oder fahren mit dem Zug zurück nach Berlin.