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Archiv-Artikel

Die ewige Oper

Das „Teatro La Fenice“ in Venedig lebt wieder auf. Acht Jahre nach einem verheerenden Brand wurde es gestern eröffnet – um wieder zu schließen. Das Bühnenhaus existiert noch nicht. Italien und sein Opernbetrieb: Nirgends spiegelt sich die italienische Dauerkrise so augenfällig wie dort

VON RALPH BOLLMANN

Es war eine sehr italienische Veranstaltung, die Venedig gestern Abend erlebt hat. Knapp acht Jahre nachdem das Teatro La Fenice einer Brandstiftung zum Opfer fiel, machte es zwar seinem Namen alle Ehre und stieg wie ein Phönix aus der Asche. Doch wurde das neben der Mailänder Scala bekannteste italienische Opernhaus nicht etwa mit einer großen Oper eröffnet, sondern nur mit einem schnöden Konzert im neuen Zuschauerraum. Denn das Bühnenhaus, für den Theaterbetrieb unabdingbar, ist noch gar nicht fertig. Am kommenden Sonntag wird „La Fenice“ bereits wieder für ein weiteres Jahr geschlossen.

Das Opernhaus in Venedig, seine Zerstörung und Wiedereröffnung stehen exemplarisch für den italienischen Opernbetrieb: So schön wie dieser spiegelt noch immer kaum ein Sektor des öffentlichen Lebens die politischen und sozialen Verhältnisse in Italien. Die extreme Spaltung der Gesellschaft, die Ignoranz der Bürokratie, der Egoismus des Geschäftsinteresses, aber auch das Talent zu wahren Wundern der Improvisation – all dies verkörpern die traditonsreichen Tempel der Hochkultur in geradezu idealtypischer Weise.

Zwar gibt Italien heute weit weniger Geld fürs Musiktheater aus als etwa Deutschland oder selbst das zentralistische Frankreich, und auch die Zahl der Opernbesucher ist weit geringer als nördlich der Alpen. Aber es ist gerade diese elitäre Verknappung des Angebots, die Italiens Opernhäuser noch immer zum Hort eines repräsentativen Bürgerstolzes macht, ja geradezu zum nationalen Monument.

Schon zu den Zeiten eines Verdi oder Puccini mussten die Bewohner des Bel Paese die Hallen der Hochkulter keineswegs selbst betreten, um sich für ihre Opernhäuser zu begeistern oder sich über ihren Zustand zu entrüsten.

So galt das jahrzehntelange Siechtum des Teatro Massimo in Palermo lange Zeit als Symbol für den Niedergang der Stadt. Volle 23 Jahre war das Opernhaus wegen angeblicher Renovierungsarbeiten geschlossen. Eine Liremilliarde nach der anderen floss in die Kassen mafioser Baufirmen, ohne dass ein Handwerker den Kolossalbau je betreten hätte. Bis Bürgermeister Leoluca Orlando das Haus vor gut sechs Jahren ganz ohne Renovierung wieder öffnete. Nichts verkörpert seither das wieder erwachte Selbstbewusstein der Palermitaner so sehr wie das prachtvolle Opernhaus am Schnittpunkt von trister Altstadt und schicker Neustadt, der sich zum neuen Zentrum des Nachtlebens entwickelt hat.

Weniger Glück hatte das festländische Bari. Als eine Brandkatastrophe 1991 das örtliche Teatro Petruzzelli vernichtete, war Baris Ruf als effizienteste Stadt des Südens bald dahin. Nicht nur, dass die Ursache des Feuers nie geklärt wurde. Auch die Rekonstruktion kam in den vergangenen zwölf Jahren kaum voran. Zwar beschloss das römische Abgeordnetenhaus vor zwei Monaten, das Petruzzelli als 14. Bühne in den Reigen der bedeutendsten Opernhäuser aufzunehmen – mit auskömmlichen Subventionen für den laufenden Betrieb. Allerdings wäre zuerst der Wiederaufbau nötig, und dafür bewilligte Rom keinen Cent.

Selbst im beinahe preußischen Mailand sind die Zeiten der Verlässlichkeit vorbei. Dem Schmiergeldskandal, der von hier aus das politische System Italiens erschütterte, folgte das Schmierentheater um die Oper. Zuletzt entzweite sich der umstrittene Scala-Chef Carlo Fontana mit seinem Chefdirigenten Riccardo Muti und wurde prompt entmachtet – bei voller Wahrung von Titel und Bezügen. Selbst der Aufmarsch empörter Demonstranten bei der alljährlichen Saisoneröffnung hat durch die Renovierung des Stammhauses an Attraktivität verloren: Er muss vor dem Ausweichquartier in einem öden Industrievorort stattfinden.

Den elitären Charakter des italienischen Opernbetriebs schmälert dies jedoch nicht. Im Gegenteil. Die Parade der Pelzmäntel mit Kartenpreisen von bis zu tausend Euro ist dafür nur das augenfälligste Symbol. In den großen Häusern teilen die Familien der besseren Gesellschaft das Gros der Plätze unter sich auf. Sie mieten ganze Logen und halten darin Hof. Das Geschehen auf der Bühne gilt ihnen als zweitrangig, bei einem allzu ausgefallenen Programm lassen sie schon mal einen großen Teil der Plätze leer. Die Tickets zum Nutzen des gemeinen Volks zurückzugeben, käme ihnen dabei nicht in den Sinn.

Die wahren Musikbegeisterten schleichen unterdessen zu den billigen Plätzen auf der Galerie – über die Hintertreppe, damit sie den Abonnenten nicht zu nahe kommen. Manche Häuser verwehren dem Pöbel selbst den Zugang zu den Pausenräumen. Immerhin werden die erschwinglichen Karten, scheinbar demokratisch, erst am Tag der Vorstellung an die Wartenden vergeben. Doch in der Praxis wissen die eingefleischten Opernfans den Andrang zu begrenzen. Sie hängen frühmorgens eine Liste aus, auf die sich jeder Anwärter eintragen muss. Mancherorts folgt alle drei Stunden ein „Appello“: Wer nicht erscheint, wird von den Opern-Tifosi rigoros gestrichen.

Ein wenig egalitärer geht es allenfalls dort zu, wo der Krieg die alten Logenränge vernichtete – etwa in Genua. Auch dort symbolisierte das Opernhaus stets das Schicksal der ganzen Stadt. Während es jahrzehntelang in Trümmern lag, galt die ligurische Kapitale bloß als öde Hafenstadt. Erst in den Achtzigern fassten die Genuesen den Beschluss, ihrer Kommune zu altem Glanz zurückzuhelfen. Womit begannen sie? Richtig: Sie beauftragten den Architekten Aldo Rossi, das historische Teatro Carlo Felice hinter den alten Fassaden neu zu errichten. Seit der Ruf der Stadt durch den Wirtschaftsgipfel litt, setzt sie erneut auf das bewährte Mittel: Nächstes Jahr ist Genua Kulturhauptstadt Europas, und wieder steht die Oper ganz im Mittelpunkt.

Unter den größeren Städten Italiens gibt es nur eine einzige, deren Opernhaus ein solches Auf und Ab nicht kennt: Das Teatro dell’Opera in Rom genießt einen verlässlich schlechten Ruf. Damit fügt es sich ins Bild eines Regierungssitzes, der auf keinem Gebiet jenseits der Politik die Funktion einer Hauptstadt erfüllt – ganz ähnlich wie Berlin. In beiden Städten wurden die Opernhäuser zum Symbol einer unfähigen Kapitale, die das Steuergeld aus den reichen Regionen verschlingt.

Ein halbes Jahrhundert liegt die letzte Glanzperiode der römischen Oper zurück, als Maria Callas in der Zeit der „Dolce Vita“ ihre Triumphe feierte. Seither geriet das Haus nur in die Schlagzeilen, wenn das Orchester streikte oder ein Intendant das Handtuch warf.

Allein Venedig, die Stadt außerhalb von Raum und Zeit, schien lange Zeit über jede Opernkrise erhaben zu sein – bis das Teatro La Fenice am 29. Januar 1996 in Flammen aufging. Wieder einmal waren es Renovierungsarbeiten, die zu den fatalen Folgen führten. Der damals 27-jährige Enrico Carella, Inhaber einer kleinen Elektrofirma, war mit seinen Arbeiten am Opernhaus in Verzug und sah sich mit einer Vertragsstrafe von umgerechnet 7.500 Euro bedroht. Um sein Versäumnis zu verschleiern und der Zahlung zu entgehen, legte er gemeinsam mit einem Cousin das Feuer.

Noch in der Brandnacht versprach der Philosoph und damalige Bürgermeister Massimo Cacciari den Wiederaufbau des Theaters, „wie es war und wo es war“. Die Wiedereröffnung wurde für 1999 anberaumt, doch alsbald stritten sich die beteiligten Firmen um die Auftragsvergabe. Gerichte wurden eingeschaltet, die Arbeiten ruhten bis zur endgültigen Klärung. Die Opernaufführungen fanden derweil in einem höchst provisorischen Zelt statt, das eigens auf dem städtischen Großparkplatz gleich neben der Brücke zum Festland errichtet wurde.

Dort müssen die Künstler trotz der gestrigen Eröffnungsfeier noch eine Weile ausharren. Aber wer wüsste besser als die Italiener, dass es im Leben ohnehin nur Provisorien gibt. In ihrer Sprache bezeichnet das Wort „crisi“ nicht eine Katastrophe, sondern den Dauerzustand.