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Archiv-Artikel

Die Machtfrage in Europa

Der EU-Gipfel ist geplatzt. Das ist keine Katastrophe: Jetzt kann die neue Debatte um die Grenzen der Souveränität beginnen. Am Ende muss eine Volksabstimmung stehen

Eines Tages wird der Entwurf des Konvents zur Verfassung der Europäischen Union werdenNoch sind nicht alleMitgliedsländer bereit, sich einer Mehrheit anderer Staaten unterzuordnen

Am 28. Februar 2002, dem Tag, als der europäische Verfassungskonvent zum ersten Mal zusammentrat, schrieb Polens Außenminister Włodzimierz Cimoczewicz in einem Gastbeitrag für die taz: „Jedes Mitgliedsland bringt in die EU sein eigenes Erbe ein. Dies ist ein Reichtum und doch auch ein Problem, das sich im komplizierten System der Entscheidungsfindung manifestiert, das in Nizza noch komplizierter wurde.“

Zwanzig Monate später ist klar: Polens Außenminister verfügt über hellseherische Gaben. Die Frage, wie die EU die Eigenständigkeit ihrer Mitgliedstaaten wahren kann und dennoch zu einer gemeinsamen Politik kommt, stand im Zentrum des jetzt geplatzten EU-Gipfels in Brüssel. Und sie bleibt die entscheidende Frage in der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union.

Ironischerweise hat Cimoczewicz Recht behalten, aber seine Haltung geändert: Während er vor zwanzig Monaten den Vertrag von Nizza kritisierte, gehört er nun zu seinen überzeugtesten Verteidigern. Der polnische Außenminister, ja nahezu ganz Polen wollen an den in Südfrankreich gefundenen Abstimmungregeln festhalten, weil das größte Beitrittsland damit in der Lage ist, EU-Entscheidungen zu blockieren. Um mit den Worten Cimoczewicz’ zu sprechen: den Reichtum Polens zu bewahren.

Das ist nun vorerst gelungen. Die Regierungschefs der Union hatten erstmals den Mut, einen EU-Gipfel platzen zu lassen und auf faule Kompromisse zu verzichten. Ein zweites Nizza, als die mühsam ausgehandelten Ergebnisse der Regierungskonferenz schon am Tag danach für Makulatur erklärt wurden, hat es nicht gegeben. Die EU ist in einer Krise, doch das ist keine Katastrophe, sondern eine Chance.

Der Prozess der Verfassungsgebung hat die EU entscheidend verändert. Vieles von dem, was im Februar 2002 unmöglich erschien, ist Wirklichkeit geworden. So hielt es zunächst fast niemand für möglich, dass es den 105 Vertretern aus 28 Staaten gelingen könnte, sich auf einen einzigen, gemeinsamen Verfassungsentwurf zu einigen. Doch sie haben es geschafft. Auch der Versuch, die Brüsseler Kommission durch die Etablierung eines permanenten Ratspräsidenten zu schwächen, misslang. Den Präsidenten wird es zwar geben, doch seine Macht ist gering, er ist nicht viel mehr als ein Sekretär, der die Arbeit der Regierungschefs koordiniert.

Die Annahme, dass die Regierungschefs den Verfassungsentwurf des Konvents grundlegend ändern werden, hat sich nicht bestätigt. Gewiss, einiges haben sie verwässert. Die Ablehnung des Legislativrats, der öffentlich über Gesetze der EU beraten sollte, ist sicher die größte Verschlechterung. Doch selbst London ist nun zur Übernahme der Grundrechtecharta in die Verfassung bereit und lehnt auch das Amt eines EU-Außenministers nicht mehr ab.

Überhaupt gab es im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik die bedeutendsten Fortschritte. Während im Vertrag von Nizza die verstärkte Zusammenarbeit einiger weniger Mitgliedstaaten bei Verteidigungsfragen noch ausgeschlossen wurde, wird dies möglich sein. Auch wenn der Gipfel nun an wenigen ungelösten Fragen scheiterte, der Verfassungsentwurf des Konvents wird zur Verfassung der Europäischen Union werden.

Trotz all dieser Erfolge scheint die Zukunft der europäischen Integration heute offener als je zuvor. Die Verfassung ist ja nicht nur dazu da, um in schönen Worten die grundlegenden Werte und Ziele der EU zu beschreiben. Mit der Verfassung wird die Machtfrage in Europa gestellt, und diese lautet: Sind die Mitgliedstaaten bereit, sich einer Mehrheit der anderen Staaten unterzuordnen? Sind sie bereit, auf einen Teil ihrer Souveränität zu verzichten? Es ist also kein Zufall, dass der Gipfel von Brüssel an diesem Wochenende genau für die Frage der Stimmgewichtung im Rat, dem wichtigsten Entscheidungsgremium der Union, keine Antwort fand.

Die Bereitschaft, die Schwelle zu überschreiten und Mehrheitsentscheidungen in immer mehr Bereichen zu akzeptieren, war für die Staaten der Union schon in den letzten Jahren nicht einfach. Dass der Streit nun aber kulminierte, hängt nicht mit dem Konvent, sondern mit Entwicklungen zusammen, die sich ebenfalls in den letzten 20 Monaten abspielten: mit dem Irakkrieg, der Europa spaltete, und mit der Wirtschaftskrise, die dazu führte, dass die beiden größten Mitgliedstaaten das wirtschaftliche Grundgesetz der EU, den Maastricht-Vertrag, brachen. Ein weiterer Grund für das Scheitern des Gipfels ist nicht zuletzt die EU-Osterweiterung. Je näher sie rückt, umso deutlicher zeigt sich, dass die Auseinandersetzung um die eh schon knappen Brüsseler Töpfe nun noch härter wird. Aus all diesen Gründen wurde die Gruppe der Staaten, die zuerst auf ihr nationales und dann erst auf ihr europäisches Interesse schaut, immer größer.

Manche sind heute der Ansicht, dass der Konvent zu spät oder zu früh kam. Hätte man bereits vor zehn Jahren den Verfassungsprozess gestartet, der Schritt hin zu einer europäischen Föderation wäre möglich gewesen – angesichts der damaligen Begeisterung für die Wiedervereinigung Europas. Oder man hätte abgewartet, die Erweiterung erst einmal vollzogen, den neuen Mitgliedern Zeit gegeben, sich an die EU zu gewöhnen. So jedoch waren einige Delegationen der osteuropäischen Beitrittsländer am Wochenende schlicht überfordert. Sie sind noch gar nicht richtig dabei und sollen bereits über eine der grundlegendsten Reformen der Union abstimmen.

Eine Diskussion darüber, wie viel Souveränität die Staaten an die Union abgeben wollen, brauchen jedoch nicht nur die neuen Mitgliedstaaten. Auch in Deutschland zeigt sich immer wieder, wie schwierig es ist, EU-Entscheidungen zu akzeptieren. Der Streit über die Chemiekalienrichtlinie und die Brüsseler Subventionen für die in Deutschland verbotene Embryonenforschung sind dafür nur zwei Beispiele.

Ein Ziel des Konvents war es, eine europäische Debatte über all diese Fragen anzustoßen. Dies ist nicht gelungen. Dabei ist der Verdruss der Europäer über die EU bei weitem nicht so groß wie allgemein angenommen. EU-Institutionen wie das Parlament, aber auch der Gerichtshof genießen höheres Ansehen als vergleichbare nationale Einrichtungen. Die Europäer interessiert, wo Europas Grenzen liegen – das zeigen die Emotionen, die immer dann laut werden, sobald es um einen Beitritt der Türkei zur EU geht.

Der Poker um die Macht, der an diesem Wochenende in Brüssel stattfand, hat den Bürgern Europas nun aber wohl zum ersten Mal klar gemacht, was derzeit in Europa auf dem Spiel steht. Daher kann nun die Debatte über die Zukunft Europas beginnen. Eine Debatte, die ein klares Ziel haben muss. Am Ende sollen die Bürger Europas in einem europaweiten Referendum über die Verfassung abstimmen. Für die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze gibt es ja jetzt wieder etwas mehr Zeit. SABINE HERRE