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Archiv-Artikel

Freiheit des Fremden

Der diesjährige Arendt-Preisträger ist der Jurist und Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der Staat, der Freiheit respektiert, kann Integration nicht erzwingen

Dürfen Muslime in einem freiheitlichen Staat ihre Tradition öffentlich leben?

Bremen taz ■ Dem Rechtsphilosoph und früheren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde ist gestern im Bremer Rathaus der diesjährige „Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken verliehen worden. In seiner Preisrede problematisierte er die rein sicherheitspolitische Begründung für den Beitritt der Türkei zur europäischen Union, wie sie etwa der grüne Außenminister Joschka Fischer vertritt. Vor der Preisverleihung fand am Nachmittag eine Gesprächsrunde über einen Satz statt, mit dem Böckenförde 1967 ein modernes, liberales Staatsverständnis formuliert hatte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, formulierte er. „Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingehen muss.“

Dem widersprach vor allem der Jurist und frühere Bremer Hochschullehrer Ulrich K. Preuss. Der Staat müsse die zur Freiheit fähigen Bürger „herbeisozialisieren“, meinte der, das Instrument dafür sei etwa die Schule. Aktuell brisant wird dieser rechtsphilosophische Streit bei der Frage, wie der deutsche Staat mit der islamischen Kultur umgehen soll. Kompromisse seien sehr schwierig in einer „Gemeinschaft von Menschen, die einander fremd sind“, meinte Preuß, und erinnerte an die Berliner Straßenzüge, auf denen selbstverständlich türkisch gesprochen wird. Böckenförde hatte sich in den letzten Monaten immer wieder in den Kopftuchstreit eingemischt: Es fehle an der Anerkennung der Pluralität, erklärte er. Zum Wagnis der Freiheit gehöre es, zu akzeptieren, dass Muslime ihre Religion öffentlich praktizieren. Indoktrination müsse der Staat in der Schule unterbinden, nicht ein Kleidungsstück. Zur Freiheit der in Deutschland lebenden Muslime gehöre ihre kulturelle Verwurzelung.

Gerade drei Prozent der Menschen in Deutschland sind Muslime. Böckenförde erinnerte an die „multikulturelle Toleranz“ früherer Staaten: Wenn Deutschland heute so offen wäre wie etwa Österreich-Ungarn, dann müsste es in Berlin nicht nur türkische Schulen geben, sondern sogar eine türkische Universität.

Aber die Freiheit kann eine Gesellschaft nur genießen, wenn es eine „Einigkeit über das Unabstimmbare“ gebe. Für die Muslime in Europa setzt er darauf, dass „Freiheit ansteckend“ ist. Bei der Aufnahme der Türkei in die Europäische Union sieht er dagegen „die EU am Scheideweg“. Denn bei einem Beitritt im Jahre 2015 wäre die Türkei schon das bevölkerungsreichste Land Europas, erklärte er. Der Islam habe aber die Säkularisierung nicht aus sich heraus hervorgebracht. Es gebe wenig „Empfindung und Willen, zusammen eine Gemeinschaft zu bilden“. Wechselseitige Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen und Einstandspflichten seien aber die „Bedingung für das Fortschreiten einer politischen Union auf demokratischer Grundlage“.

Böckenförde empfiehlt, die Entscheidung für eine besondere Partnerschaft, „eine Art assoziierter Mitgliedschaft“, offen zu halten – eben weil der Staat die Voraussetzungen, von denen er lebt, nicht selbst schaffen könne, wenn die Menschen überfordert sind.

Für sein oft unbequemes politisches Denken wurde er gestern im Bremer Rathaus gewürdigt.

Klaus Wolschner