Fünf Episoden über das Verlieren

VERLUSTE Judith Hermann erzählt, sprachlich streng durchkomponiert, in ihrem neuen Buch „Alice“ über das Sterben und mehr noch über das Weiterleben

Alice fährt ins Freibad, kauft Erdbeeren, besucht Freunde und sieht mit an, wie das Leben weitergeht

Jetzt nichts mehr über die suggestive Wirkung ihres Fotos, den Sound der Prenzlauer-Berg-Twenty-Something-Boheme und all das, was seit ihrem Debüt „Sommerhaus, später“ praktisch ständig über Judith Hermann zu lesen war. „Alice“, ihr neues Buch – das erste seit sechs Jahren – kann getrost für sich allein stehen.

Man kann die fünf mit Männernamen überschriebenen Abschnitte des Buches entweder als Erzählungen mit jeweils derselben Protagonistin nehmen oder aber als Kapitel eines Romans. Eines Romans, der Episoden aus dem Leben von Alice erzählt, Episoden über den Verlust. Micha, Conrad, Richard, Malte, Raymond, sie alle werden sterben, oder aber sie sind es, wie Malte, bereits vor vielen Jahren. Micha ist der Erste. Es ist lange her, dass Alice und er ein Paar waren. Nun hat seine Frau Maja angerufen und Alice gebeten zu kommen. Micha liegt in einem Krankenhaus in der westdeutschen Provinz, nur noch Stunden oder Tage wird es dauern, bis der Krebs ihn sterben lässt. Bis dahin will Maja bei ihm sein und braucht jemanden, der sich um ihr kleines Kind kümmert, das nicht mehr mit ins Krankenzimmer kommen will. Es nehme seinen Vater nicht mehr als Menschen wahr, erklärt Maja. Die beiden Frauen, die sich nicht kennen und sich kaum etwas zu sagen haben, richten sich in der deprimierenden Welt von Ferienwohnungen ein, das Kind übt laufen und spricht erste Worte, und man wartet, dass Micha stirbt.

Mechanisch wäre nicht das richtige Wort, auch bleiern trifft es nicht wirklich. Aber Judith Hermann fängt etwas ein, das einen verstehen lässt: Man kann das Sterben und den Tod eines nahen Menschen nur überstehen, wenn man so kontrolliert, fast reserviert spricht, so diszipliniert den Alltag verrichtet und sich bewegt, wie Maja und Alice es tun.

Raymond ist der Letzte. Er war der Freund von Alice; woran er gestorben ist, erfährt man nicht. Er ist nicht mehr da, das ist alles. Nun räumt Alice seine Sachen aus der gemeinsamen Wohnung, bewahrt Einzelnes auf, fährt ins Freibad, kauft Erdbeeren, besucht Freunde und sieht mit an, wie das Leben weitergeht.

Es gibt kaum ein Thema, das so gefährdet ist, gefühlsseligen Kitsch zu produzieren, wie der Tod. Bei Judith Hermann wird nicht geklagt, auch nicht geweint. Stattdessen sind ihre Geschichten sprachlich streng durchkomponiert und mit einer herben Melodie unterlegt. Nicht ein Wort zu viel vermeint man zu finden. Es gelingt ihr, begreifbar zu machen, welch sonderbares Zusammenfallen von Plötzlichkeit und stillstehender Zeit der Tod bedeutet, der aus alledem herausfällt, was sonst ist.

Obgleich Hermann ja eigentlich kein Buch über das Sterben geschrieben hat, sondern eins über den Verlust. Die Sterbenden werden in Ruhe gelassen in ihrem Sterben. Man kann beim Lesen nur ahnen, ob sie noch wahrnehmen, was um sie herum passiert oder ob sie jede körperliche Berührung, jedes Streicheln der Hand schmerzt.

Der Tod von Malte, über den Hermann in der dritten der fünf Geschichten erzählt, unterscheidet sich von den anderen, denn Malte, der Onkel von Alice, hat sich kurz vor ihrer Geburt das Leben genommen. Geblieben sind ein paar Fotos und Dinge, die an ihn erinnern, und das Haus in Berlin-Kreuzberg, in dem er gewohnt hat und vor dessen Fenster Alice nun hin und wieder steht. Dass sein Tod eine so große Leerstelle in Alices Leben hinterlässt, erzählt vielleicht am besten, worum es neben der Trauer um den konkreten Verlust, den der Tod eines nahen Menschen mit sich bringt, geht. Man könnte es, in Anlehnung an die berühmte Formel von der transzendentalen Obdachlosigkeit, mit der Lukács die ideologische Verlorenheit des modernen Menschen beschrieben hat, eine transzendentale Einsamkeit nennen. Die wird einem vielleicht erst dann wirklich bewusst, wenn der Tod zum Teil des eigenen Lebens wird – und das kann durchaus passieren, wenn man zu der Generation gehört, zu der Hermann, 1970 geboren, zählt. In diesem Sinne wäre „Alice“ dann sogar eine Art Fortschreibung von „Sommerhaus, später“ – auch wenn man diese Verknüpfung ja eigentlich vermeiden wollte. Hermanns Figuren sind erwachsen geworden, und Judith Hermann zeigt mit ihnen, dass sie nicht nur irgendwann mal in den Neunzigern ein Gespür für ein bestimmtes Lebensgefühl hatte, sondern dass sie eine verdammt gute Schriftstellerin ist.

WIEBKE
POROMBKA

Judith Hermann: „Alice“. Fischer, Frankfurt a. M. 2009, 192 Seiten, 18,95 Euro