: Wenn die Eltern plötzlich älter werden
Sich von den eigenen Erzeugern absetzen, an ihnen herumnörgeln – das war gestern. Denn wenn Mutter und Vater einsam und gebrechlich werden, dann vertauschen sich die Rollen. Dann müssen wir uns kümmern. Drücken? Gilt nicht! Neue Ratgeber helfen, diese neue Situation zu bewältigen
VON BARBARA DRIBBUSCH
Die Anzeichen sind unverkennbar. Der in einer fernen Stadt lebende Vater ruft nicht mehr nur alle paar Wochen an, sondern klingelt alle zwei Tage durch. Die Geschwister, die nahe bei der Mutter wohnen, erzählen, dass die alte Dame nicht mehr alleine einkaufen kann. Der Gedanke, dass Vater mit 82 noch eigenhändig durch den Stadtverkehr kurvt, hat plötzlich etwas Beunruhigendes. Die Eltern werden gebrechlich. Wie verantwortlich sollen sich die Kinder jetzt fühlen? Gerade für die mittlere Generation ist die Frage nicht einfach zu beantworten.
„Die Generation der heute 40- bis 60-Jährigen hatte häufig große Probleme mit den Eltern“, erklärt die Psychologin Helga Käsler-Heide. Sich von den Eltern innerlich abzusetzen, gegen sie zu protestieren oder gar in langen Therapien über die schwierige Beziehung zu Mutti und Vati zu lamentieren, gehört zur Biografie dieser Altersgruppe. Durch die gestiegene Mobilität sind die Beziehungen obendrein distanzierter geworden. So leben beispielsweise 60 Prozent der erwachsenen Kinder mit ihrem Nachwuchs nicht mehr am selben Ort wie die Eltern.
Die mittlere Generation „erlaubt sich eine größere emotionale Distanz als frühere Generationen“, so Käsler-Heide. Doch die Regeln ändern sich, wenn die Eltern das 75. oder 80. Lebensjahr überschritten haben, physisch schwächer werden oder der Partner gestorben ist. In einer Gesellschaft der Langlebigen betrifft das immer mehr Menschen. „Plötzlich sind die Rollen vertauscht: Abhängig und hilfsbedürftig sind jetzt nicht mehr die Kinder, sondern die Eltern“, schreibt die Kommunikationstrainerin Dorothee Döring.
Der Rollentausch vollzieht sich schleichend, etwa wenn die Eltern plötzlich immer häufiger anrufen. „Die Gespräche haben oft gar keinen besonderen Anlass. Die Eltern suchen in vielen Fällen nur kurzen Kontakt, wollen sich überzeugen, dass alles in Ordnung ist“, schildert Käsler-Heide. „Diese kurzen Kontakte sind die ersten Anzeichen ihrer beginnenden Einsamkeit. Immer mehr Verwandte, Freunde und Bekannte sterben, der Freundeskreis reduziert sich und die Einsamkeit wird größer. Aus dem Bedürfnis nach Kontakt wird die Bedürftigkeit nach uns Kindern größer.“
Sich als erwachsenes Kind dann immer noch auf die alte Rolle des Verweigerers, der Rebellin oder des Genervten zurückzuziehen bringt genauso wenig wie die ganze Verantwortung den Geschwistern zuzuschieben, die am Heimatort hängen geblieben sind. Das frühere Genörgel zwischen Eltern und Kindern ist gleichfalls passé, wenn Vater oder Mutter einer lautstarken Unterhaltung zwischen mehreren Leuten gar nicht mehr ohne weiteres folgen können und zunehmend in der eigenen Erinnerung leben.
„Ein Teil des Erwachsenwerdens besteht darin, das alte Rollenspiel zu durchbrechen und beispielsweise die Eltern so zu akzeptieren, wie sie sind, mit all ihren Haken und Ösen“, meint Käsler-Heide. „In gewisser Weise ist der Abschied von dem Bild der starken Eltern auch eine Form von Trauerarbeit. Es ist der Abschied von dem Bild der Eltern, das man in der Kindheit aufgebaut hat, und zugleich auch ein Abschied von der eigenen Kindrolle, auch wenn wir schon lange kein Kind mehr sind.“
Die erwachsenen Kinder sollten die Beziehung zu den alten Eltern – vielleicht zum ersten Mal – selbst aktiv gestalten, statt nur auf Anrufe, Bitten oder gar Vorwürfe zu reagieren, raten PsychologInnen. Das kann bedeuten, regelmäßig bei den Eltern anzurufen und vorbeizukommen, gegebenenfalls auch mal einen mehrtägigen Besuch einzuplanen, Ausflüge anzubieten, wenn möglich vor Ort im Haushalt mit anzupacken oder dafür zu sorgen, dass sie Unterstützung im Haushalt bekommen. Gerade bei echten Greisen sind die Beeinträchtigungen erheblich. Ein Drittel dieser Hochbetagten etwa braucht Hilfe beim Lebensmitteleinkauf.
Der extremste Rollentausch ist die Pflegesituation zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern. Doch sie stellt die Ausnahme dar. Nur 20 Prozent der 80- bis 85-Jährigen braucht Pflege, mehr als 70 Prozent davon wird zu Hause versorgt, meist von der Partnerin beziehungsweise dem Partner und seltener von den Töchtern oder Schwiegertöchtern, ganz selten von den Söhnen. Und auch wenn erwachsene Kinder ihre pflegebedürftigen Eltern mit versorgen, ist es besser, sie leben nicht in einem Haushalt zusammen. „Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Pflege weniger belastet, wenn getrennte Haushalte aufrechterhalten werden können“, schreibt die Gerontopsychologin Marianne Künzel-Schön.
In allen Ratgebern zum Umgang mit den alten Eltern warnen Psychologinnen jedoch auch vor der neuerlichen Überforderung der jüngeren Generation. Es ist nicht unbedingt immer eine gute Lösung, die gebrechlichen Eltern in den Wohnort der erwachsenen Kinder nachziehen zu lassen oder gar jedes Wochenende mit ihnen zu verbringen. Gerade das alte „Pflichtdenken“ hat früher zu jahrzehntelangen Hassbeziehungen zwischen Eltern, Schwiegereltern und Kindern geführt, von denen sich die mittlere Generation ja zu Recht distanzieren wollte.
Die Abgrenzung gehört also mit zu den neuen Umgangstechniken. „Egal wo Ihre Grenzen sind – respektieren Sie sie“, raten die US-amerikanischen Familiencoaches Joseph A. Llardo und Carole R. Rothman erwachsenen Kindern.