: Rebellion mit einem Lächeln
AUS NANTANG GEORG BLUME
Tang Dianlins Lächeln ist so breit, es kann nur ehrlich gemeint sein. Er hat es in dem Moment aufgesetzt, als das wacklige Dreirad-Gefährt aus der nahen Kreisstadt mit dem ausländischen Reporter auf dem Rücksitz vor seinem Gemeindehaus hielt. Tang lächelt nicht alleine. Hinter dem jungen, kräftigen Bürgermeister des Dorfes Nantang in der südostchinesischen Provinz Anhui drängen ein Dutzend Bauern und Bäuerinnen, die nicht nur überschäumen vor Freundlichkeit, sondern genau wissen, warum sie an diesem Tag auf den fremden Gast gewartet haben. Sie wollen ihm etwas erzählen.
Dafür haben sie Tische und Stühle unter einem großen Bild vom Tiananmenplatz in Peking aufgebaut, das den Saal im Inneren des Gemeindehauses schmückt. Ein weiteres Bild zeigt Ex-Parteichef Jiang Zemin. Alles wirkt wie auf einer kommunistischen Parteiveranstaltung. Doch den Bauern geht es um etwas ganz anderes: Unter Führung ihres Bürgermeisters haben 80 Familien in Nantang in diesem Frühjahr eine der ersten unabhängigen Landkooperativen Chinas gegründet: ein waghalsiges Unternehmen, das den Familien einen beträchtlichen Teil ihres Jahresverdienstes kosten kann. Partei und Regierungsbehörden haben die Kooperative bis heute nicht anerkannt. Jeden Tag müssen die Bauern mit einem Verbot ihrer Aktivitäten rechnen. Von einem Tag auf den anderen könnte ihr in die Kooperative eingezahlter Mitgliedsbeitrag von umgerechnet 10 Euro beschlagnahmt werden. Für die Familien in Nantang, die im Jahr mit 250 Euro auskommen müssen, ist das ein bedeutendes Risiko. Auch deshalb ist den Bauern jede Unterstützung recht – Auslandsbesuch erscheint ihnen wie ein Segen, selbst wenn er konkret nichts bewirken kann.
Als die Runde im Gemeindesaal vollständig ist, würden alle am liebsten auf einmal reden. Jahrelang fühlten sich die Bauern in Nantang tyrannisiert und rechtlos; jetzt glauben sie endlich, ihr eigenes Schicksal in die Hand genommen zu haben. Man einigt sich, erst einmal die Mitglieder des Führungskomitees vorzustellen: vorweg die leicht ergraute Bäuerin im blauen Arbeiteranzug, die in der Kooperative die Tanz- und Kulturgruppe leitet. Mehr kulturelle Begegnungen seien für die Dorfbewohner ganz wichtig, sagt sie, damit nicht jeder für sich allein die Freizeit verbringe und ständig Fernsehen schaue. Neben ihr sitzt ein junger Bauer im hellbraunen Blouson, schwarzen Hosen und Lackschuhen: Er leitet die Einkaufsgruppe und besorgt Dünger, Samen und Pestizide für alle 80 Mitgliedsbetriebe der Kooperative. Wegen der großen Mengen hat er 10 Prozent des gewöhnlichen Kaufpreises gespart. „Über ein Jahr gerechnet könnte jedes Mitglied umgerechnet 30 Euro auf die Seite legen“, preist der Bauer den Nutzen des gemeinsamen Wirtschaftens. Ein Teil des ersparten Geldes soll dann gemeinsam investiert werden: in Ausbildungskurse für die Dorfbewohner, auf denen man sich neue Gesetze und Produktionstechniken erklären lassen will.
Um die Arbeitsgruppe Fortbildung kümmert sich Bürgermeister Tang, der gleichzeitig Chef der Kooperative ist. Dabei ist Tang einer, der sich nicht vordrängt. Erst als alle anderen ausgeredet haben, wird er aufgefordert, die Geschichte seines Dorfes zu erzählen. Doch zunächst teilt Tang Zigaretten aus. Das ist eine einfache Geste der Freundschaft in China. Draußen vor dem Gemeindehaus pflücken seine Frau und seine Tochter Baumwolle. Die Ernte muss weitergehen, auch wenn der Mann spricht.
Es ist ein gutes Jahr für die Bauern in Nantang – ohne Trockenheit und Überschwemmungen. Noch im letzten Jahr sorgte die Flut des nahen Huaihe-Flusses, dessen Unberechenbarkeit im alten China viele Legenden inspirierten, für eine verdorbene Maisernte. Im Jahr davor war es die Dürre, die die Weizenernte dahinraffte. Überschwemmungen und Dürre zerstören in der Provinz Anhui mit historischer Regelmäßigkeit die Ernte. In guten Jahren aber sind die Erträge hoch. Weshalb die Region eine hohe Bevölkerungsdichte aufweist, obwohl sie immer wieder Katastrophengebiet ist. Die Bauern hat das geprägt: Weil für sie auf die Natur nie Verlass ist, sind sie von der Regierung abhängiger als andere. In der Geschichte führte das zu einer Reihe berühmter Rebellionen: Chinas erster Bauernaufstand um das Jahr 200 v. Chr. fand in der Provinz statt. Und 1978 begann Deng Xiaoping mit der Auflösung der Landkommunen in Anhui, weil Not und Proteste der Bauern hier am stärksten waren. Das ist heute nicht anders.
Bürgermeister Tang hat sich eine Zigarette angesteckt. Er muss für die Geschichte von Nantang ein paar Jahre zurückgreifen: „1997 war die Lage unerträglich“, hebt er an. Im Gemeindesaal ist es nun so still, dass man Kindergesänge aus der Dorfschule nebenan hört. Tang erzählt, was bisher nirgendwo geschrieben steht, weil es die Zensur in China nicht zulässt. Er erzählt, wie die alten Dorfkader die Bauern ausbeuteten, ihnen illegale Steuern abknöpften, zum Beispiel umgerechnet 7 Euro für die Schweinezucht und 3 Euro für jedes Familienmitglied, das in die Stadt arbeiten ging. Wer nicht zahlte, wurde von der Dorfpolizei verprügelt – mit Faust, Fuß und Stock. Wer Beschwerde einreichte, bei dem wurde eingebrochen und die Wohnung zerstört. Wer immer noch nicht spurte, dem wurde mit dem Messer gedroht. Bis die Frau, die heute die Kulturgruppe leitet, im Gemeindebüro Akten mitgehen ließ, die bewiesen, dass das Dorfkomitee umgerechnet 40.000 Euro unterschlagen hatte.
Tang brachte die Akten 1998 nach Peking – für den Bauern eine ungeheure Überwindung. Doch es nützte nichts, Tang wurde vom Beschwerdebüro abgewiesen. Er versuchte es auf Kreis- und Provinzebene. 2001 hatte er endlich Erfolg. Auf Beschluss der Provinzregierung wurden die alten Mitglieder des Dorfkomitees von Partei und Amt ausgeschlossen und einige geringe Strafgelder erhoben. Anschließend wählten die Bauern Tang zum Bürgermeister. Seither werden die Steuern nicht mehr von Polizeischergen eingetrieben, sondern im Gemeindebüro bezahlt. Die Finanzen sind für alle einsehbar. Wer zu arm ist, um Steuern zu zahlen, bekommt Hilfe statt Prügel. Nur einen Ausweg aus der Armut des Dorfes boten die Maßnahmen bisher nicht. Deshalb hat man die Kooperative gegründet.
Tang teilt wieder Zigaretten aus. Manchmal nimmt er einen Kugelschreiber aus der Hemdtasche und steckt ihn wieder ein. Er kann nicht nur lesen und schreiben, im Gegensatz zu den meisten Alten in Nantang, er hat im Laufe der Jahre politisch denken gelernt: „Wir brauchen mehr Rechte und Freiheiten. Seit 26 Jahren sind wir an den Pachtvertrag gefesselt, den Deng jeder Bauernfamilie zusprach, und haben nicht die gleichen Rechte wie Stadtbewohner“, sagt Tang. Ganz ruhig klagt er das Unrecht an: Dass Bauern im Gegensatz zu Städtern keinen Zugang zur staatlichen Kranken- und Rentenversicherung haben, dass sie höhere Schulgelder zahlen und nicht die gleichen Bildungschancen besitzen, dass ihre Arbeit außer als Bauarbeiter in den Städten nicht zugelassen ist. „Wir sind auch Bürger und wollen gleichberechtigt sein“, schließt Tang seine Rede, die für 800 Millionen Bauern gilt, die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung. Doch weiter wäre Tang auch gar nicht gekommen.
Plötzlich ist neuer Besuch im Gemeindesaal: Sang Tang, der Parteichef aus der Kreisstadt Fuyang, hat Wind von der Begegnung bekommen und eilt Tang zur Hilfe. Sang ist dick, trägt eine goldene Brille und ein Handy mit großem Bildschirm. Er setzt sich vor Tang und lässt die Bauern nicht mehr zu Wort kommen. „Alle Bauern haben in China die gleichen Rechte wie Arbeiter. Das steht in der Verfassung“, sagt Tang. Nun müssten sie lernen, effizienter zu arbeiten, weil China der Welthandelsorganisation beigetreten sei. Der Parteichef redet noch eine Weile, dann kommt ein Polizeiauto vor den Gemeindesaal gefahren. Die Polizisten sind wegen des Reporters gekommen. Er hat keine Besuchsgenehmigung und soll das Dorf auf der Stelle verlassen. Keine weiteren Fragen. Tang aber hat ohnehin alles beantwortet. Er lächelt zum Abschied noch einmal und bietet eine Zigarette an.