Armut ist das größte Gesundheitsrisiko

Jahresbericht der Weltgesundheitsorganisation WHO: Kluft zwischen Ländern mit guter und schlechter medizinischer Versorgung wird größer. Aids-Epidemie macht in Afrika alle Fortschritte zunichte. Erfolge beim Kampf gegen Polio und Sars

aus Berlin BERNHARD PÖTTER

Die Gnade der richtigen Geburt lässt sich genau berechnen: Ein Mädchen, das heute in Japan geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 85 Jahren. Die Kleine wird geimpft, gut ernährt und geht in eine Schule. Wenn sie Mutter wird, genießt sie medizinische Hilfe, ebenso im Alter. Pro Jahr investiert der Staat für ihre medizinische Versorgung 550 US-Dollar.

Ein anderes Mädchen hat am gleichen Tag Geburtstag – allerdings im westafrikanischen Sierra Leone, einem der ärmsten Staaten der Welt. Sie wird wahrscheinlich nicht geimpft und leidet an Unterernährung. Sie heiratet als Jugendliche und bringt etwa sechs Kinder auf die Welt – ohne medizinische Hilfe. Eines oder mehrere ihrer Kinder sterben jung, sie selbst hat ein hohes Risiko bei der Geburt ihrer Kinder zu sterben. Jedes Jahr stehen für ihre medizinische Versorgung 3 Dollar zur Verfügung. Sie stirbt mit 36 Jahren.

„Diese globalen Unterschiede bei der medizinischen Versorgung können wir nicht hinnehmen“, sagte Jong-Wook Lee, Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), gestern bei der Vorstellung des Jahresberichts 2003. 25 Jahre nach der „Erklärung von Alma-Ata“, in der die WHO-Mitglieder verkündet hatten, die medizinische Grundversorgung auszubauen, zog Lee eine zwiespältige Bilanz. Zwar sei es gelungen, die durchschnittliche Lebenserwartung seit 1950 um fast 20 Jahre zu steigern, die Krankheiten Polio und Sars zurückzudrängen und die internationale Zusammenarbeit auf dem Gesundheitssektor zu verbessern. Doch gleichzeitig ist bei der Bekämpfung der HIV/Aids-Epidemie kein Erfolg in Sicht, fehlt medizinisches Personal, können sich viele Staaten medizinische Grundversorgung nicht leisten und ist die Lebenserwartung etwa in Schwarzafrika um 20 Jahre zurückgegangen.

Nötig ist für die WHO der massive Ausbau der Gesundheits-Infrastruktur. Sonst würden die Staaten die UN-Millenniumsziele zur Bekämpfung der globalen Armut verfehlen, warnt die UN-Behörde. Vom Ausbau der Gesundheitsfürsorge profitiere die gesamte Gesellschaft: Fortschritte bei Bildung, Umweltschutz, Wirtschaft und Ernährung seien ohne bessere medizinische Versorgung nicht vorstellbar.

Als „führenden Killer“ macht die WHO auch für 2003 die Aids-Epidemie aus: 2,3 Millionen Menschen starben daran. Auch Herzkrankheiten (1,3 Millionen), Tuberkulose (1 Million) und Verkehrsunfälle (800.000) sind vermeidbare Todesursachen. 500.000 Frauen sterben jedes Jahr bei der Geburt eines Kindes. Das Risiko dafür ist in armen Ländern 250-mal höher als in reichen. Diese Ungleichheiten „stellen dringende Fragen über Gerechtigkeit“, mahnt die WHO.

Der Bericht listet auch Erfolge bei der globalen Gesundheitspolitik auf. So sei es inzwischen fast gelungen, die Kinderlähmung Polio auszurotten. Die Zahl der gelähmten Kinder pro Jahr ist von 350.000 (1998) auf 1.900 (2003) zurückgegangen. Eine Koalition aus Regierungen, UN-Agenturen, Hilfsorganisationen und Privaten habe es geschafft, dass 10 Million Freiwillige in einem Jahr 575 Millionen Kinder geimpft hätten – eine größere Anstrengung als bei der Ausrottung der Pocken.

Eine zweite Erfolgsgeschichte ist für die WHO die Bekämpfung der Lungenkrankheit Sars im Frühjahr. Ein System von frühen Warnungen, Kontrollen, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit habe gezeigt, dass „ein solcher Ausbruch selbst ohne ein Gegenmittel eingedämmt werden kann, wenn die Maßnahmen genau zugeschnitten sind und politische Rückendeckung haben“.

Die nächste Bewährungsprobe für die WHO ist bereits absehbar: Anfang Dezember wurde aus Singapur und Taiwan der nächste Sars-Fall gemeldet.

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