: In das Fremdsein sozialisiert
Die Integrationsdebatte geht in eine falsche Richtung: Dass es hierzulande viel Absonderung und wenig Anpassung gibt, liegt nicht an den Zuwanderern. Vielmehr ist es Sache der Aufnahmegesellschaft, die Bedingungen einer wirklichen Integration zu schaffen. Deutschland hat da Nachholbedarf
VON ANDREA SZUKALA
Ein neues Ornament des derzeitigen Integrationsaktionismus ist der Integrationskurs „Staatsbürgerkunde“: Mit der Integrationskursverordnung, die mit dem Zuwanderungsgesetz im Januar 2005 in Kraft tritt, wird es diese Kurse erstmals verbindlich geben. Gelernt werden sollen die „Werte des demokratischen Staatswesens der Bundesrepublik Deutschland und [die] Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit“. In den USA ist das Ablegen eines staatsbürgerkundlichen Tests („Wie viele Sterne hat die US-Flagge?“) schon lange Voraussetzung der Einbürgerung. Es ist sicher zu begrüßen, dass in Deutschland ein solches Angebot verbindlich gemacht wird. Absonderlich scheint nur, dass man urplötzlich das deutsche Grundgesetz wieder entdeckt, als habe die Verfassung bislang für Zuwanderer nicht gegolten.
Das lenkt von den eigentlichen Voraussetzungen für die politische Integration von Zuwanderern ab. Die werden allerdings anders geschaffen. Die Liebe zur Verfassung (der CSU-Chef Stoiber fordert einen Eid aufs Grundgesetz), die den Ankommenden plötzlich abgefordert wird, überkommt sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht spontan, wenn es nach bestandener Prüfung zum Schwur kommt.
Das Gefühl, angekommen zu sein und das Recht zu haben, am politischen Gespräch in einem Land teilzunehmen, beruht – so sagt es Pierre Bourdieu – auf der Empfindung allgemeiner gesellschaftlicher Billigung und Anerkennung. Beides ist für Fremde in den meisten Aufnahmegesellschaften erst einmal Mangelware. Das ist normal. Aber am Ende ist Anerkennung die entscheidende Voraussetzung für Teilhabe und Integration. Wie kann sie entstehen? Die Frage stellt sich, ob Anerkennung nur ein Endprodukt einer erzwungenen Anpassung (wie derzeit gefordert von CDU/CSU), des Fehlens einer echten Rückkehroption in die Heimat (wie bei meinen Vorfahren im Ruhrgebiet nach 1922) oder des langsamen gesellschaftlichen Aufstiegs von Zuwanderern sein kann.
Dass Arbeitsmigration ohne Einwanderung nicht zu haben ist und dass es auch an den Aufnahmestaaten liegt, wie erfolgreich Einwanderung organisiert wird, so viel ist zum Glück in den letzten Wochen klar geworden. Jede aufnehmende Gesellschaft ist zunächst in der Lage, ihre eigenen Vorstellungen von den interethnischen Beziehungen durchzusetzen und die ihr genehmen Lösungen für das Problem der Assimilation (Anpassung) oder der Segregation (Absonderung) zu finden. Neu ist die Wahrnehmung dafür, dass viel Segregation und wenig Assimilation in Deutschland stattfinden. Dieses Problem ist aber letztlich nicht den Zuwanderern zuzuschreiben. Denn es liegt am wenigsten an ihnen, dass hier bei vielen Zuwanderern keine Entscheidung für die Integration getroffen wird.
Staaten haben unterschiedliche Möglichkeiten, diese Prozesse zu steuern. Ihr erstes Instrument ist natürlich die Zuwanderungs- und Staatsbürgerschaftsgesetzgebung. In Deutschland gab es in den letzten Jahren eine geradezu zwanghafte Fixierung auf Fragen der formalen Zugangsberechtigungen. Dass das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht bestimmte Voraussetzungen für das Handeln von Zuwanderern schafft, ist zweifellos schon mal ein Fortschritt. Aber es ist nur ein erstes Mittel. Staatliches Handeln im Bereich der Integrationspolitik ist immer auch nationale Identitätspolitik, und deren Maßnahmen berühren viele Politikbereiche.
Einer ist die Bildungspolitik. Sie hat die Scharnierfunktionen für die Sozialisation und Integration junger Bürger mit unterschiedlichen sozialen und ethnisch-kulturellen Voraussetzungen. Für die politische Sozialisation ist die Schule zentral, da viele Zuwandererfamilien in dem neuen, konfliktgeladenen politischen Umfeld einer westlich-liberalen Demokratie ganz besondere Orientierungsprobleme haben. In Großbritannien und in den USA wird diese Anforderung an politische Bildung durch Schulen klar ausformuliert. Die citizenship education stand in den Neunzigerjahren im Zuge der Wiederentdeckung der Staatsbürgerschaft als Konzept für die Befähigung und Ermächtigung – vor allem auch der jungen Zuwanderer –, auf der Basis gleicher Rechte zu partizipieren.
Das deutsche Bildungssystem erbringt bereits zu geringe allgemeine Sozialisationsleistungen für Zuwanderer. Darüber hinaus hat sich speziell für den Bereich der politischen Bildung gezeigt, dass deutsche Schüler im internationalen Vergleich zwar über politisches Wissen verfügen, aber dass sie nur mangelhaft politisch sozialisiert werden. Das politische Interesse ist unterdurchschnittlich, das bürgerschaftliche Engagement ebenfalls. In Bezug auf Einwanderung sind die Einstellungen deutlich abwertend.
Ohne diese Befunde zu dramatisieren, sollte es erlaubt sein, nach den Gründen zu fragen. Könnte es an den angewandten Konzepten liegen? Zwei prominente Ansätze sind hier zu nennen: Ausländerpädagogik und interkulturelle Pädagogik. Mit der „Ausländerpädagogik“ ist versucht worden, die „Ausländerkinder“ in eine Passung mit ihrem neuen Heimatland zu bringen, bei der „interkulturellen Erziehung“ geht es um die Toleranzerziehung (vor allem auch) der Eingeborenen.
Die Erziehung greift durch auf die Verhaltensebene der einzelnen Jugendlichen, thematisiert wird vor allem der soziale Nahbereich: die soziokulturellen und religiösen Differenzen sowie deren Aushalten und Überwinden. Diesbezügliche Konflikte müssen – ich karikiere den sozialpädagogischen Eros – von den Schülern am Ende irgendwie durch „Kompromissbildungen“ gelöst werden. Das Problem: Die meisten ethnischen und religiösen Differenzen kann man nicht durch Kompromisse lösen. Und: In einer soziokulturell und religiös zunehmend hybriden Welt werden damit Unterschiede rekonstruiert, die ihr Verfallsdatum längst überschritten haben. Es entsteht ein statisches System, in dem Berechtigungen über kulturelle Fremdheitsbonuspunkte verteilt werden. Es können aber weder Voraussetzungen für Anerkennung noch klare Anforderungen ausformuliert werden, denn: Das Politische ist wieder das Private.
Ein Umkehrschluss für die Jugendlichen könnte lauten: Will ich hier wirklich anerkannt werden und politisch partizipieren, muss ich ein ganz anderer Mensch – nämlich ein kulturell und religiös assimilierter „deutscher“ Deutscher – werden. Das aber können sie gar nicht werden. Der französische Publizist Emmanuel Todd erkennt in dem deutschen System eine besonders heikle Spannung zwischen der Sehnsucht nach der kulturellen Homogenität aller Deutschen und der verzweifelten Suche nach Abgrenzung zu den anderen.
Wie wirkt sich das konkret auf Muster der Teilhabe aus? Die Migrationsforschung hat gezeigt, dass die Bildung von Zuwanderer-Subkulturen in den Aufnahmegesellschaften wichtige soziale Funktionen für einen längerfristigen Integrationsprozess haben. Für die Tschechen in Wien, die Iren in New York und die Ruhrpolen galt das gleichermaßen: Trotz aller vehementen Abgrenzungsbeschwörungen ging ihr Nationalismus nicht in der Separation auf, sondern hatte die paradoxe Funktion, ihnen die Gewöhnung an eine feindlich eingestellte Umwelt zu erleichtern.
Auch die Aufnahmegesellschaften profitieren, denn dort, wo Zuwanderer sich organisieren, können sie eine entscheidendere Rolle bei den sie betreffenden Auseinandersetzungen spielen. Sie konzentrieren sich auf ihre Zukunft in der aufnehmenden Gesellschaft und sind wesentlich weniger an der Politik ihres Herkunftslandes orientiert. Die gesellschaftliche Sichtbarkeit erhöht gleichzeitig ihre „Anerkennung“ im Sinne Bourdieus als eine entscheidende Voraussetzung für volle politische Integration und staatsbürgerliche Inklusion.
Schwierig wird es, wenn Zuwanderer und deren Nachkommen politisch nachhaltig in das Fremdsein sozialisiert werden: Signalisiert die Aufnahmegesellschaft Komplettexklusion, werden bestimmte Gruppen bei der Rechtevergabe (seien sie sozioökonomisch oder staatsbürgerlich-politisch) systematisch übergangen, kann ethnische Differenz zum eigentlichen und alleinigen Organisationsziel werden. Auf der individuellen Ebene entstehen Weltbilder, die das Heimatland idealisieren. Die Bezugsebenen verschwimmen, Bikulturalität wird unmöglich. Gleichzeitig wird durch den Mangel an eigenen Handlungsmöglichkeiten im Grunde keine echte politische Sozialisation durch das Aufnahmeland und seine Institutionen stattfinden.
Am Ende können der Rückzug in den privaten Raum, die kulturelle Andersheit und die Beschränkung auf die Anwesenheit am fremden Wohnort stehen. Schließlich werden – und das geschieht – später dann auch angebotene Staatsbürgerrechte im Aufnahmeland aktiv zurückgewiesen. Im internationalen Vergleich fällt das deutsche Schulsystem besonders dadurch auf, dass frisch eingewanderte Jugendliche in Deutschland erheblich bessere Leistungen aufweisen als die bereits hier Geborenen der ersten Einwanderergeneration. Wenn es einen Befund gibt, der zu Alarmierung Anlass gibt, ist es dieser.
Eine Erklärung für solche bizarren Effekte liegt darin, dass Gruppen zunächst in und später auch von dem Bewusstsein leben, dass sie für die Aufnahmegesellschaft Pariafunktionen erfüllen. Die Existenz einer schwarzen Pariagruppe habe in den USA die Assimilierung der verschiedenen Sorten von Europäern und der Asiaten ermöglicht, so Todd. In Deutschland zeichne sich eine ähnliche Rolle für ausgegrenzte Türken ab, die womöglich die fortschreitende Eingliederung von Aussiedlern in den Neunzigerjahren erleichtert habe.
Für die neue Grundgesetz-Mode in Deutschland heißt das: Sollte diese staatsbürgerliche Unterweisung eine Unterweisung bleiben und nicht in anstrengende Auseinandersetzungen um Anerkennung – also um eine substanzielle Staatsbürgerschaft – münden, sollte das sterile Abfeiern kultureller Unterschiede und die gleichzeitige Dämonisierung von sozialen Organisationen der Zuwanderer beibehalten werden, sind von dieser neuen kostspieligen Einzelmaßnahme keine echten Integrationseffekte zu erwarten.