Auf Illusionsschicht

Literarisches Puzzle, detailbesessenes Geschichtsbuch: Raoul Schrotts Sehnsuchtsroman „Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde“

von SEBASTIAN HANDKE

Mit der Sehnsucht ist es immer dasselbe. Sie macht den Menschen, der nicht verstehen will, dass man einer Projektion nicht habhaft werden kann, zum Narren. Und sie geht dabei gleichgültig vor gegenüber Zeit und Stand – also müsse man doch, so mag sich Raoul Schrott mit seinem Roman „Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde“ gedacht haben, die Wahlverwandtschaft der Sehnenden auch über die Jahrhunderte hinweg verknüpfen können. So haben wir also einen Landvermesser und Funker während des Zweiten Weltkriegs, einen Priester, noch dazu Reisegefährte Darwins und Bruder von Lewis Carroll, einen besessenen Briefmarkensammler und einen einsamen Schriftsteller; ob auch die Polarlichtforscherin Noomi Morholt dazugerechnet werden muss, wird sich erst am Ende erweisen.

Ein topografischer Nullpunkt soll der Knoten dieser Sehnenden sein, und da kann es wohl nur einen geben: Tristan da Cunha, die einsamste Insel der Welt. Von hier aus, mitten im Atlantischen Ozean, zwischen Brasilien, Südafrika und der Antarktis, sind es 2.000 Kilometer bis zur nächsten menschlichen Siedlung auf St. Helena, zum Kap der Guten Hoffnung sogar fast 3.000. „Heute kommt das Versorgungsschiff ‚RMS St. Helena‘ einmal im Jahr“, und auch dann können etwaige Besucher nur von Bord gehen, wenn das Wetter es zulässt. Die Vulkaninsel erhebt sich als Teil eines winzigen Archipels über das Meer, als sei sie der höchste Punkte der Erde, und man muss die schönen Dinge aus ihrer Welt herauslösen, um sie zu verehren – doch erweist sie sich als karg und abweisend, wenn man ihr zu nahe kommt. Zumindest Letzteres gilt hier häufig auch für die Frauen, die im Übrigen alle Marah heißen.

Recht allegorisch wird die Insel erstmals in Besitz genommen, und da sie sich als uneinnehmbar erweist, behalf sich der Portugiese Tristão da Cunha im Jahre 1506 mit einer Kanonenkugel, auf die ein Kreuz und der Name ihres Entdeckers eingemeißelt worden waren, bevor man sie auf die Insel schoss. Im Folgenden gibt es etliche Versuche, die Insel in Besitz zu nehmen: Da kommen die Engländer, die Österreicher, die Franzosen, schließlich ein Mann namens Lambert aus Salem, Massachusetts, der auf den drei Inseln des Archipels frech sein eigenes, unabhängiges Reich proklamiert, bevor William Glass dort mit einem kommunistischen Freimaurerstaat das Zeitalter der Utopie einläutet, das sich für eine solche Insel ziemt. Er geht als erster Stammvater in die Annalen ein, denn auch heute noch leben dort Abkömmlinge der Glass-Dynastie. Doch ging den Portugiesen das unwirtliche Eylandt zunächst an die Holländer verloren, und damit wären wir wieder bei unseren Wahlverwandtschaften angelangt. Denn wie es der Zufall will, haben nicht nur diese damals ihr singuläres Kleinod an einen van Houten verloren, sondern viel später auch der Briefmarkensammler Mark Thomson seine Frau Marah. Eine gar nicht schöne Geschichte ist das, wie ihm, der die vollständigste Sammlung der begehrten Da-Cunha-Postwertzeichen zu besitzen sich rühmen darf, wie ihm also der Kollege aus Holland im eigenen Haus an Irlands Küste Hörner aufsetzt. Es wundert nicht, dass er denselben Namen zu tragen hat wie jener König Marke, dem Tristan ehemals die Isolde bringen sollte, die er dann aber lieber gleich selbst klarmachte.

Die Bezüge zum Tristan-Stoff sind überall in diesem Buch – fünfzig Jahre vor Marks schmählicher Niederlage wartet Markus auf Christian Reval, der die Insel vermessen und ihm seine versprochene Marah bringen soll. Die beiden verfallen einander noch auf dem Schiff (ohne vorher etwas zu trinken). Dies ist sicher die traurigste der vielen wahren und manchen unwahren Geschichten, die Raoul Schrott um die verwunschene Insel sich ranken lässt, und Christian muss seinen Liebestod sterben nicht mit Marah, sondern mit Maria, jener Frau, die er an ihrer statt ehelichte – eine boshafte Pointe in diesem anspielungsreichen Roman. Das alles können wir nur wissen, weil Noomi Morholt bei ihrer Ankunft auf der antarktischen Forschungsstation im Februar 2003 eine Kiste mit Dokumenten findet, die dem kleinen Museum von Tristan da Cunha übergeben werden soll. Wir ahnen es schon: Noomi nannte sie ihr Schöpfer Schrott, weil die Naemi des alten Testaments eigentlich Marah heißen wollte, und auf die Kiste mit den Männerberichten von Mark Thomson, Christian Reval und Edwin Dodgeson blickt sie aus der Perspektive der selbst Idealisierten, die sich in der kalten Antarktis der heißen E-Mails eines brasilianischen Schriftstellers erwehren muss.

„Tristan da Cunha“ ist ein literarisches Puzzlespiel mit Schiffbrüchen, Totschlag und unehelichen Kindern; eine biblische Genealogie mit sieben Familien, deren jede jeweils eine der Todsünden auf die Insel bringt; ein detailbesessenes Geschichtsbuch über einen entlegenen Sehnsuchtsort, der wie all jene Marahs immer das zu sein hat, was seine Eroberer in ihm sehen möchten. Wie sein Philatelist Mark Thomson legt Raoul Schrott eine ganze Welt in sein „Mini Mundus“ und macht sich damit wissend und vorsätzlich jener Illusionsproduktion schuldig, die er mit seinem ebenso größenwahnsinnigen wie großartigen Roman auf so poetische Weise kritisiert.

Raoul Schrott: „Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde“. Roman. Hanser Verlag, München 2003, 720 Seiten, 25,90 Euro