: Lauter Sieger im Publikum
AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG
Der alte Mann mit den grauen, zurückgekämmten Haaren und der grünen Jacke wirkt etwas verwirrt. Er ist die Treppe im Justizgebäude an der Nymphenburger Straße hinaufgeeilt – und prallt nun auf eine Schlange von Wartenden, die sich vor einer Polizei-Absperrung aufgestaut hat. „Müssen sich hier denn alle anstellen?“, fragt der Mann verblüfft. „Kommt darauf an, wo sie hin müssen“, antwortet ein freundlicher Kameramann, „hier werden alle kontrolliert, die zum Neonazi-Prozess wollen.“ Da bleibt der alte Mann stehen, holt einmal tief Luft und sagt: „Nein, zu dem Neonazi-Prozess will ich nicht.“ Dann stellt er sich an der Schlange an und fügt, leise, aber sehr bestimmt an: „Ich will zu dem Verfahren gegen den Herrn Wiese. Das ist etwas anderes.“
Ist es das? Der Herr Wiese heißt mit Vornamen Martin und wird an diesem Vormittag von zwei Beamten des „Uniformierten Sonderkommandos“ der bayerischen Polizei an Handschellen in den Gerichtssaal A 101 geführt. Er trägt eine Jeansjacke, sein Kopf ist rasiert. Mit den buschigen, fast bis ans Kinn reichenden Koteletten und seinem Bart wirkt er beinahe wie ein Verehrer des letzten deutschen Kaisers, tatsächlich hat sich der 28-Jährige in seinem politischen Wirken aber eher an Adolf Hitler denn an Wilhelm II. orientiert.
Das behaupten zumindest die drei Staatsanwälte. Sie haben gegenüber von Wiese und den drei weiteren Angeklagten Platz genommen. Die beiden Gruppen werden sich in den kommenden Monaten jeden Mittwoch und Donnerstag treffen.
Als sie sich das erste Mal vor Gericht begegnen, wirft der Chefankläger der Bundesanwaltschaft, Bernd Steudl, den Vieren vor, einer terroristischen Vereinigung anzugehören, die unter anderem das bestehende politische System abschaffen wollte und als ersten Schritt dorthin einen Sprengstoffanschlag auf die Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München geplant hatte. 1,2 Kilogramm TNT hatten Wiese und die anderen bereits zusammen, als sie im September 2003 festgenommen wurden. Deshalb müssen sie sich, voraussichtlich bis zum März 2005, vor dem Obersten Bayerischen Landesgericht verantworten – und werden, wenn sich die Vorwürfe bestätigen, mit hohen Gefängnisstrafen rechnen müssen. Das Verfahren gilt in Justizkreisen als Musterprozess für den juristischen Umgang mit militanten Rechtsextremisten.
Der Herr Wiese, gibt seine Verteidigerin nach Verlesung der Anklageschrift zu Protokoll, wird sich zu all dem nicht äußern. Dafür spricht Alexander M., 28, der als Wieses Stellvertreter bei jener Gruppe galt, die sich zwischen 2001 und 2003 wahlweise „Aktionsbüro Süd“ oder „Kameradschaft Süd“ nannte und vom Verfassungsschutz als eine der gefährlichsten Neonazi-Gruppen Deutschlands eingestuft wurde.
Alexander M. hat viel zu erzählen, fast anderthalb Verhandlungstage nimmt seine Vernehmung in Anspruch. Am Ende reibt man sich verblüfft die Augen und blickt noch einmal in den Notizblock. Nach dem, was dort steht, war die „Kameradschaft Süd“ eine Art Freizeitgruppe national gesinnter junger Menschen, die am Stammtisch über Bismarck, Rudolf Heß und die Wohnungsnot in München diskutierten, und von denen sich einige in aller Verschwiegenheit ab und an im Wald trafen, um sich gegenseitig spielerisch mit Luftdruckpistolen zu beschießen und Kampftechniken zu üben – nur zur Verteidigung selbstverständlich. Falls man mal von Linken angegriffen wird.
Fast bekommt man Mitleid, wenn M. – kurze braune Haare, Kinnbart, in seiner übertrieben ruhigen, oft hilflos wirkenden Art nicht unsympathisch – in geradezu rührenden Worten beschreibt, wie sie ständig Sammelaktionen starteten, selbst wenn es um die 50 Euro Anmeldegebühr für eine Demonstration ging: „Das konnte keiner der Kameraden einfach so auf den Tisch legen.“ Sie waren schon arm dran. Wenn ihnen nicht gerade jemand ein paar tausend Euro in die Hand drückte, um Waffen zu kaufen. Doch, wo dieses Geld herkam, davon hat M. nun wirklich keinen Schimmer. Vielleicht weiß es der Herr Wiese, sagt er. Doch der schweigt und macht sich Notizen.
Und so geht es weiter mit den mittlerweile schon absurd wirkenden Beschwichtigungen, als M. von den Übungen der so genannten Schutzgruppe, dem Führungszirkel der Kameradschaft, im Wald erzählt – bis es Bundesanwalt Steudl dicke hat: „Bei dem, was Sie mir erzählen, wie harmlos das alles war: Da hätte ich auch Mitglied bei Ihnen werden können, oder?“ „Nein, wohl nicht.“ „Ach, und weshalb nicht?“ „Ohne Ihnen nahe treten zu wollen: Es könnte mit ihrem Alter zu tun haben.“ Da hat Alexander M. die Lacher auf seiner Seite, und der unter Hochsicherheitsbedingungen ablaufende, international beobachtete Rechtsterrorismus-Prozess von München scheint bereits am zweiten Verhandlungstag ins Groteske abzudriften.
Nach der Vernehmung von Alexander M. verliest der 24-Jährige Karl-Heinz St. eine Erklärung. Mit Glatze, Schnauzbärtchen und Fred-Perry-Poloshirt pflegt er wie die anderen das rechte Szene-Outfit, behauptet aber, nach einer Jugendstrafe aller Gewalt abgeschworen zu haben. Die Beschaffung des Sprengstoffs in Polen und Mecklenburg-Vorpommern beschreibt er als „reinen Nervenkitzel“. Was man damit habe anfangen wollen, habe man nie gewusst: „Mei, andere machen Bungee-Jumping und wir halt so einen Schmarrn.“ Da müssen selbst die sonst stets gesittet auftretenden Sympathisanten auf den Zuschauerplätzen kichern.
Es ist ein eigenartiges, fast befremdliches Verfahren, das vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht abläuft – und doch sagt es viel über Strategien und Verhaltensmuster deutscher Rechtsextremisten im Jahre 2004 aus. Im Gegensatz zu früheren Terrorismus- und Neonazi-Verfahren spielt sich hier niemand als selbst ernannter Revolutionär auf. Trotz der umfangreichen Beweise weigern sich die Angeklagten auf geradezu absurde Art und Weise, ihre offensichtliche Gegnerschaft zum bestehenden System zu erklären.
Um das zu verstehen, muss man vielleicht den Blick von der Anklagebank abwenden und in die Reihen der Zuschauer blicken. Da sieht man an jedem Verhandlungstag den alten Mann mit der grünen Jacke, der das Verfahren „gegen den Herrn Wiese besucht“. Und da sitzt immer Norman Bordin, der erste Anführer der „Kameradschaft Süd“, der wegen Körperverletzungen und anderer Delikte in Haft saß, als seine Kameraden TNT, Rohrbomben, Pistolen und Handgranaten beschafften. Bordin ist vor kurzem in die NPD eingetreten und trägt jetzt gern einen hellen, zur Jahreszeit etwas unpassenden Anzug. Interviewanfragen wehrt er mit der Routine eines Berufspolitikers ab, doch an der Presse ist er selbstredend interessiert.
Einem Redakteur des Focus drückt er im Vorbeigehen eine Unterlassungserklärung seines Anwalts in die Hand, und als er den taz-Reporter an seinem – vom Gericht vorgeschriebenen – Namensschild identifiziert, entspinnt sich ein kurzer Dialog: „Ach, ihr seid natürlich auch hier“, sagt er. Und: „Ich lese euch immer im Weltnetz, damit ich euch kein Geld gehen muss.“ Es heißt Weltnetz, der Begriff Internet passt nicht in den deutschnational getrimmten Wortschatz.
Wie er tummeln sich an jedem Verhandlungstag etwa 15 rechte Gesinnungskameraden im Gerichtssaal, obwohl jeder Besucher seine Personalien registrieren lassen muss. Aber warum soll man sich verstecken, jetzt, wo die NPD mit über neun Prozent in den sächsischen Landtag eingezogen ist? Wo man doch, wie einer jener Zuschauer in einer Verhandlungspause sagt, „in der Gesellschaft angekommen ist“? Der Mann trägt Hemd und Krawatte, ist jung, doziert freundlich. Natürlich, sagt er, passe es nicht so gut ins Bild, „dass der Wiese und seine Leute sich da so blöd haben erwischen lassen“. Andererseits: „Die haben sich doch bloß von einem V-Mann reinlegen lassen.“
Denn Didier M., der die Kameradschaft Süd im Auftrag des Verfassungsschutzes bespitzelte, war, so erzählen es zumindest die Angeklagten, offenbar eine Art Berater von Wiese und hatte Zugang zur „Schutzgruppe“. Wenn die Vernehmung auf ihn kommt, lächelt der alte Zuschauer mit den grauen, zurückgekämmten Haaren und der grünen Jacke. Wie gut würde das doch alles für ihn, für Bordin und viele andere Zuschauer zusammenpassen: Da sitzen ein paar aufrechte Deutsche auf der Anklagebank, die vom hinterhältigen Staat verführt wurden. Auch Martin Wieses Verteidigerin Anja Seul lächelt. In Verhandlungspausen demonstriert die Frau mit dem energischen Gesichtsausdruck gern einmal ihre Siegesgewissheit: „Damit kommt die Bundesanwaltschaft nicht durch.“
Für Momente ist man geneigt, ihr zu glauben, zumal auch ein Lauschangriff auf Martin Wiese möglicherweise nicht oder nur zum Teil verwertet werden darf. Doch dann sickert in der zweiten Verhandlungswoche von Seiten der Anklage durch, dass es in einem parallel und unter Ausschluss der Öffentlichkeit laufenden Prozess gegen weitere Mitglieder der „Kameradschaft Süd“ offenbar eine Reihe schwer belastender Aussagen gegen Wiese und die anderen Anführer gegeben hat. So soll eine junge Frau, die zeitweilig zum engsten Führungskreis zählte, erklärt haben, man habe mit der „Schutzgruppe“ der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ nacheifern wollen. Das wiegt insbesondere vor einem Münchner Gericht schwer: Es war ein Angehöriger der „Wehrsportgruppe Hoffmann“, der 1980 eine Bombe auf dem Oktoberfest zündete. Zwölf Menschen starben mit ihm, über 200 wurden verletzt, viele schwer. Die „Kameradschaft Süd“ hatte alles beisammen, um einen ähnlichen Anschlag zu verüben.