: Der Kloß im Herzen
Liegt es an Weihnachten oder an der Nostalgie für Sixties-Schmachtsongs? Von Scott Walker ist mit „Five Easy Pieces“ eine Fünffach-CD-Box von 1966 bis heute erschienen. Immer noch brummt der Bariton des Verlassenseins angenehm im Brustkorb
von HARALD FRICKE
Jedes Jahr zu Weihnachten fiebert Großbritannien den aktuellen Charts entgegen. Wer macht die Nummer eins, wenn Santa Claus kommt? Gut im Rennen liegt derzeit Ozzy Osbourne, der mit seiner Tochter Kelly die Black-Sabbath-Feuerzeug-Hymne „Changes“ aufgenommen hat. Ein Hoch auf Black Metal an Christmas, bei Eierpunsch und Gingerbread, das ist selbst für BBC ein Thema.
Vermutlich hat auch die Plattenabteilung bei Universal ans Weihnachtsgeschäft gedacht, als sie vor kurzem eine Fünffach-Box von Scott Walker auf den Markt brachte. Tolle Stückauswahl, sämtliche CDs wurden thematisch gebündelt, vom Sixties-Kitschdrama für einsame Liköre am Nachmittag bis „Patriot (A Single)“, dem desolaten Antigolfkriegsepos von 1991, in dem es heißt: „The bad news is there is no news“. Wer ausgeklügelten Popschlossbarock mag, extravagante Arrangements mit Ennio Morricone und Spieldosen-Melodien, kann hier stundenlang melancholisch wegdriften, ohne sich durch Berge von Demotracks wühlen zu müssen. „Five Easy Pieces“ ist keine kritische Gesamtausgabe mit Fußnoten und Nerd-Kommentaren zu jeder Gesangsspur, sondern als Anthologie eines vergessenen Popstars mit aufrichtiger Hingabe gemacht, für stille Tage in Nostalgie.
Nun zählt Scott Walker trotz seiner oft bestrickenden Schmachtsongs eher zu den Aufmerksamkeitsverlierern. Seit über 20 Jahren lebt er zurückgezogen im Westen Londons, mittlerweile kann er U-Bahn fahren, ohne dass ihm wild gewordene Damen kreischend die Haare vom Kopf rupfen. Manchmal wird er höchstens von irgendwelchen Kulturschranzen eingeladen, wenn für ein Festival noch ein anspruchsvoller Sänger gebraucht wird. Jedes Mal lehnt er ab, weil er schwer an einer Comeback-Platte arbeitet, Songs für einen Film schreibt oder im Studio Bands wie Pulp produziert.
Richtig glauben kann man ihm die Betriebsamkeit nicht. Von 1984 bis heute hat Scott Walker zwei Alben veröffentlicht, alle zehn Jahre eines. Die Erklärung, dass er Monate braucht, bis sich aus Wortspielen, Literaturzitaten und existenzialistischem Kopfzerbrechen ein singbarer Text formulieren lässt, mag wohl stimmen. Wer jedoch frechweg behauptet, die letzten Platten seien souveräner, aber unverkaufbarer Gesamtkunstscheiß gewesen, liegt ebenfalls richtig. Mit dem verschachtelten Opernbombast auf „Tilt“ konnten 1995 nur diejenigen etwas anfangen, die neben einem Ohr für atonale Musik auch ein Herz für Gitarrenlärm hatten. Das waren naturgemäß nicht allzu viele.
Offenbar reichen die Einnahmen aus Erfolgen wie „Make It Easy on Yourself“ oder „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“ dennoch für ein geruhsames Leben als legendärer Typ von gestern. Aber auch mit der Legende hat Scott Walker seine Probleme. Interviews gibt er selten, die immer gleichen Fragen nach der Vergangenheit machen ihn depressiv. Anders als Tom Jones mit seinem Ruf des unkaputtbaren Sexsbombers will Walker nicht auf ein Bild zur Zementierung der herrlich crazy Sechzigerjahre festgelegt werden: ein schlaksiger Schönling, der betörende Lieder übers Verlassensein singt – die weiche Baritonstimme als Grundbrummen im Brustkorb inklusive. Dass sein „Jackie“ bereits 1968 wegen der Zeile über authentic queer aus dem Radio verbannt wurde, ist dagegen fast vergessen, passt nicht zur samtpfötchenhaften Smartness.
Dabei liest sich Walkers Scheitern wie das Tourtagebuch zum kurzen Walk of Fame. 1965 kommt der 21-jährige Noel Scott Engel mit zwei Bandkollegen aus Kalifornien nach England, um dem Militärdienst in Vietnam zu entgehen. Außerdem werden in Europa die besseren Filme gedreht: Bergmann, Pasolini und „diese seltsamen britischen Komödien“, bei denen Walker kein Happy End entdecken kann. Von ihrem Label Phillips werden die drei Amerikaner in Cordhosen gesteckt und als Walker Brothers zur coolen Gegenboheme erklärt, obwohl sie ironischerweise vor allem schmusige Standards von Burt Bacharach oder Motown singen. Ihre Stücke werden vom Produzenten John Franz noch mit Orchester und mehrspurigem lateinamerikanischen Tamtam aufgesprudelt, weil sich ein Wall of Sound à la Phil Spector hervorragend macht für die Top of the Pops.
Alles zusammen ergab: neun Hits in Folge von April 1965 bis Mai 1967 und eine Teenagergefolgschaft, die in England auf dem Höhepunkt der Walker-Brothers-Karriere größer war als bei den Beatles (und die waren bekanntlich größer als Jesus). Nur Scott Walker wollte nicht, wie es die Plattenfirma vorgesehen hatte. Auf seine Zukunftspläne angesprochen, antwortete er 1966: „Endlich ein Mensch werden.“ Das machte er auf eine extrem eigene Weise, erschien nicht mehr zu Konzertauftritten und löste nach einem Selbstmordversuch die Band auf. Statt „Dancing in the Streets“ sang er „It’s Raining Today“, statt im TV weiter den lockeren Entertainer zu markieren, vergrub er sich in Sartre-Lektüre und übte Béla Bartók – ganz das verstockte Genie, ein Poet maudit auf der Suche nach den „true shades of blue“, umgeben von lauter gesellschaftlichem Freizeitspektakel.
Dass auch dieses Bild nicht aufgeht, merkt man in der Streuung von „Five Easy Pieces“. Wenn Walker stets nur „die eine wichtige und universelle Idee“ finden wollte, so wie es Picasso mit seinen Gesichtern für ihn geschafft hatte, dann liegt seine Magie trotzdem im abrupten Wechsel von Atmosphären und Gefühlslagen. Er ist der Meister des größtmöglichen Übergangs, eben noch mit einem Fanfarenstoß dem Ende nahe und kurz darauf schon wieder in Gedanken versunken am Fenster, wo Schneeflocken zu schönen Mustern festfrieren.
Die Sprunghaftigkeit trifft den Kern der Walker’schen Empfindungswelt sehr genau. Der Kloß im Herzen lässt sich nie richtig mit jemandem teilen, oder wie er an einer Stelle in „It’s Raining Today“ singt: „No hangups for me, cause hangups need company“. Den Spott des Verzweifelten kennen viele, ergreifend ist er nur bei zwei Sängern geworden. Jacques Brel ist tot, Scott Walker wird am 9. Januar sechzig Jahre alt. Die Glückwünsche werden kommen, bedanken wird er sich nicht. Dafür ist er viel zu beschäftigt.