: Krach in der Stadt des Meerrettichs
AUS BAIERSDORF BARBARA BOLLWAHN
Das ist die Geschichte von zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine, Andreas Galster, ist Mitglied der CSU und der evangelisch-lutherischen Kirche. Zudem ein Liebhaber klarer und auch schon mal derber Worte. Er ist Bürgermeister der 7.500 Einwohner zählenden Kleinstadt Baiersdorf in Mittelfranken, wo er vor 41 Jahren geboren wurde. Gerhard Beck, der andere, ist Diplomingenieur, ein ruhiges Naturell, politisch steht der 42-Jährige eher links. Vor zwanzig Jahren ist der gebürtige Nürnberger aus der Kirche ausgetreten. Vor zehn Jahren ist er nach Baiersdorf gezogen.
Ein einziges Mal haben Galster und Beck miteinander gesprochen. Das ist über zwei Jahre her. Danach war beiden klar, dass sie nichts miteinander anfangen können. Der Grund ist ein bayerischer Brauch, nach dem die Kirchenglocken rund um die Uhr im Fünfzehn-Minuten-Rhythmus die Zeit verkünden. Für Beck ist das eine Lärmbelästigung, die abgeschafft werden muss. Für Galster eine alte Tradition, die beibehalten werden muss. Mittlerweile ist der bayerische Verwaltungsgerichtshof zuständig.
Gerhard Beck wohnt mitten im Ort, im ehemaligen Mesnerhaus. Er ist einer der wenigen direkten Nachbarn der Sankt Nikolaus Kirche – und der einzige, dessen Schlafzimmer raus zum Kirchplatz geht. In der Küche hängen Bilder des spanischen Künstlers Miró und der Comicfigur Tintin. Beck ist es ein wenig unangenehm, über die Kirchenglocken zu reden. Der Grund: „Ich bin vielleicht mit einer gewissen Naivität drangegangen und hätte nicht mit so viel Sturheit gerechnet.“ Als er vor zehn Jahren das alte Fachwerkhaus kaufte, sei ihm die Nähe zur Kirche schon bewusst gewesen, nicht aber das viertelstündliche Schlagen der Turmuhr. In Erlangen, wo er zuvor wohnte, habe es das nicht gegeben.
Ein Glockenschlag aus dem nur wenige Meter entfernten Kirchturm verkündet, dass es Viertel nach Fünf ist. Ein tiefer, warmer Ton dringt durch die geschlossenen Fenster. Fünfzehn Minuten später sind es zwei Schläge, wieder eine Viertelstunde später drei, und um sechs sind es zehn. Vier für die volle Stunde und sechs für sechs Uhr. Die Tassen tanzen nicht im Regal. Aber es ist schon ziemlich laut. Beck betont, dass ihn das tagsüber nicht stört. „Aber in der Nacht, da find ich’s einfach zu laut, und das muss nicht sein.“
Anfangs dachte Beck, er gewöhne sich daran. Bis der erste Sommer kam und er die Schlafzimmerfenster öffnete. „Da ist es irrsinnig laut und stört die Nachtruhe.“ Seine vier und fünf Jahre alten Kinder wohnen zwar mittlerweile bei seiner ehemaligen Freundin. Doch auch Beck will „e weng“ die Fenster aufmachen können. 85 Dezibel hat er im Schlafzimmer gemessen. Mit einem Schallpegelmesser von Motorola in Nürnberg, wo er arbeitet. Der Geräuschpegel entspricht dem eines startenden Flugzeugs oder einer Kettensäge aus zehn Metern Entfernung. Nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz sind nachts maximal 65 Dezibel erlaubt. Weil Gespräche mit dem früheren Bürgermeister nichts brachten, hat Beck vor zwei Jahren das Landratsamt in Erlangen angeschrieben und die Behörde aufgefordert, das Zeitschlagen zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens einzustellen. Das Landratsamt schaltete das Gesundheitsamt ein. Letzteres stellte „eine wahnsinnige Überschreitung“ der erlaubten Lautstärke fest. Es bestätigte Beck gesundheitliche Risiken wie Schädigungen des vegetativen Nervensystems, Ausschüttung von Stresshormonen bis hin zum Herzinfarkt. Die Gemeinde wurde vom Landratsamt aufgefordert, die nächtliche Zeitverkündung einzustellen oder die Lautstärke zu mindern. Nicht die Kirche, sondern die Gemeinde ist zuständig, weil sie für den Erhalt des Gotteshauses sorgt.
Baiersdorf ist 650 Jahre alt. Einige hübsche alte Fachwerkhäuser konkurrieren vergeblich mit der Bundesautobahn A 73, die den Ort teilt. Die Kleinstadt wirbt mit dem Attribut „schärfste Stadt Bayerns“. Das liegt am Meerrettich. Im 15. Jahrhundert begann der Anbau des scharfen Wurzelgemüses in Mittel- und Oberfranken; die beiden führenden Hersteller haben ihren Sitz in Baiersdorf.
Das Rathaus liegt direkt am Kirchplatz, wenige Meter von Becks Haus entfernt. Andreas Galster, seit drei Jahren Bürgermeister und vorher Verwaltungsleiter von zwei Unikliniken in Erlangen, sitzt in seinem aufgeräumten Büro. Zu seiner Rechten ein Computer, zur Linken Aktenschränke, hinter ihm auf einem Regal zehn leere Plastikablagen. An der Wand ein Porzellanteller mit der Aufschrift: „Wer der Gemeinde dient, hat einen bösen Herrn.“ Unter lautem Lachen nennt er sich „den schärfsten Bürgermeister“ im Land.
Doch bei den Glocken hört für Galster der Spaß auf. „Das Zeitschlagen ist eine lieb gewordene Tradition, die zeigt, dass bei uns die Kirche im Dorf steht“, stellt er klar. Für die meisten Baiersdorfer seien die Glockenschläge „eine zeitliche Orientierung in der Nacht“. Plötzlich wird sein Schreibtisch zur Kanzel. „Glocken künden von der frohen Botschaft Gottes, dass wir armen Sünder auf dieser Welt durch Jesus Christus erlöst sind, auch wenn sie uns in dem Fall nur von der banalen Zeit künden.“
Deshalb hat der Bürgermeister gegen die Aufforderung des Landratsamtes beim Verwaltungsgericht Ansbach Beschwerde eingelegt. Ohne Erfolg. Das Gericht hat festgestellt, dass das Zeitläuten nach dem Bundesimmissionsgesetz als Lärm anzusehen ist. Die Gemeinde muss es in der Nacht einstellen oder reduzieren. Eine Schmach für Galster. Mit einem Antrag auf Zulassung einer Beschwerde will er diese vergessen machen. Derzeit prüft der bayerische Verwaltungsgerichtshof in München über die Zulassung seiner Beschwerde. Bis darüber entschieden ist, wird nachts weiter geläutet.
Der Bürgermeister sitzt in seinem Stuhl und wirft die Arme in die Luft. „Gesundheitsschäden!“, ruft er aus. „Wenn ich das schon höre!“ Er verzieht das Gesicht, als würde ihm das Wort Schmerzen bereiten. Die Hände landen auf den Stuhllehnen und gehen sofort wieder hoch. „Mein Feuerwehrkommandant hat am Kirchplatz zwei Kinder groß gezogen, und die haben keine gesundheitlichen Schäden erlitten und sind psychisch nicht durchgedreht.“
Galster stößt es gewaltig auf, dass eine einzelne Person der Mehrheit seinen Willen „aufzwingen“ kann. Zu Beck selbst will er sich nicht äußern. Da übt er sich in Zurückhaltung. Nur so viel: „Ein Gesetz vom Bundestag kann nicht die Verhältnisse in Baiersdorf richten.“ Eine Provinzposse sei das Ganze aber nicht. Galster sucht nach einem passenderen Wort. Die Augen blitzen, als er es hat. „Oaschgwaff“, sagt er und lacht. „Das ist ein Oaschgwaff.“ Frei übersetzt heißt das Arschgerede.
Mit Genugtuung erzählt Galster von einem einstimmigen Beschluss des Stadtrates, nach dem er alles unternehmen solle für den Erhalt des Zeitschlagens. Im Stadtrat sitzen zehn CSUler, fünf SPDler, drei Vertreter der Ökologischen Wählergemeinschaft und ebenso viele von den freien Wählern. Doch das nützt Galster nichts vor Gericht. Deshalb hat er Kontakt zu einer Firma aufgenommen, um prüfen zu lassen, ob durch das Anbringen von Lamellen am Kirchturm eine Dezibelreduzierung zu erreichen sei. Lieber belastet Galster die Gemeindekasse anstatt wie andere Gemeinden nachts die Glocken einfach ruhen zu lassen.
Ist Beck einer von diesen Städtern, die aufs Land ziehen und sich dort an typisch ländlichen Geräuschen stören? Beck hat fünf Jahre in einer Großstadt gelebt. „Aus Gewissensgründen“ ist er mit 27 Jahren „nach Berlin hoch“. Er wollte nicht zur Bundeswehr. In Berlin wohnte er in der Einflugschneise eines Flughafens. Klar habe ihn das gestört, sagt er. „Anfangs haben die Tassen im Schrank gewackelt.“ Aber zum einen könne man dagegen nichts machen, und zum anderen seien die Flugzeuge im Laufe der Zeit leiser geworden. Wegen dem „Metropolenstress“ nach dem Mauerfall ist Beck nach Franken zurückgegangen.
Doch gegen die Glocken kann sich Beck zur Wehr setzen. Dafür beziehungsweise dagegen gibt es das Bundesimmissionsschutzgesetz. „Das ist gemacht worden, um die Gesundheit der Leute zu schützen“, sagt er. Dem Bürgermeister wirft er Prinzipienreiterei vor. „Wenn es Gesetze gibt, muss man sich dran halten.“ Punkt. Beck macht keinen Hehl daraus, was er von Galster hält. „Das ist ein Depp für mich. Ein Spinner, mit dem ich nichts anfangen kann.“ Ein Schmarren sei die ganze Angelegenheit.
Trotz aller Unterschiede gibt es etwas, was Galster und Beck eint: Die Zuversicht. Beck vertraut auf das Gesetz. „Ich gehe davon aus, dass das Zeitschlagen in der Nacht eingestellt wird.“ Galster hofft auf einen salomonischen Richter. Und hat einen frommen Wunsch, der in Erfüllung gehen möge. „Dass alle Betroffenen die Weisheit Gottes ereilt.“