: Eine Verteidigerin des Rechts
Nie verteidigt die Rechtsanwältin Gül Pinar Vergewaltiger. Nie Kinderschänder. Nie Faschisten. Abdelghani Mzoudi verteidigt sie, der angeklagt ist, das Attentat vom 11. September geplant zu haben, bei dem über 3.000 Menschen getötet wurden
VON NADJA KLINGER
Als die Flugzeuge in die Wolkenkratzer rasen, steht die Rechtsanwältin Gül Pinar in den Dolomiten auf einem schroffen Felsen an der Klippe. Sie nimmt Anlauf. Ein großes Stück gelber Stoff legt sich in die Luft. Es ist der Gleitschirm, mit dem die Frau verbunden ist. Er ist nicht robust. Man muss wissen, wie viel Wind man ihm zumuten kann. Man braucht Gefühl fürs Material.
Am Abend kommt Gül Pinar, 35, in ihre Unterkunft. Sie schaltet den Fernseher ein. Wochen später bittet man sie auf dem Flughafen Newark, aus der Schlange der Wartenden zu treten. Man lässt sie nicht einreisen. Sie ruft einen berühmten amerikanischen Anwalt an, informiert das deutsche Konsulat, bittet das Landeskriminalamt Hamburg rauszukriegen, was los ist. Sie will doch in New York nur den Marathon laufen. Sie erfährt: Irgendwann hat sie jemanden verteidigt, der auf der amerikanischen Fahndungsliste steht. Wer sollte das gewesen sein?
Gül Pinar fragt sich das nicht. Sie fliegt zurück nach Hause, weil sie muss. „Weil ich Türkin bin“, sagt sie sich. „Weil ich aus einem islamischen Land stamme.“ Die Vermutung kränkt. Wird man von einem Ort vertrieben, hält man sich fortan fern. Nur ist das Gül Pinar unmöglich. Bald ist New York überall.
Der Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 nimmt 3.066 Mal die Gestalt des Todes an. Er sitzt als Schmerz in den Körpern von Millionen New Yorkern. Bei Menschen in aller Welt wirken die Bilder von diesem Tag permanent nach.
Nineeleven, nennen die New Yorker den Tag. Der Begriff bezeichnet nichts. Er ist Aussage schlechthin. Nineeleven, das sind Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Nineeleven ist, wenn plötzlich jemand ganz anderer Meinung ist. Nineeleven sind die vielen Kinder, die bald im Village und in SoHo geboren werden. Nineeleven weht wie ein Wind von den USA nach Europa.
In Hamburg, wohin Gül Pinar zurückgekehrt ist, kann man das deutlich spüren. Einige der Attentäter lebten hier. Der Terroranschlag hat in der Hansestadt eine Wirklichkeit. Sie ist rau, diese Wirklichkeit. Rasterfahndungen werden eingeleitet. Man muss sich auskennen. Es bedarf einiger Fertigkeiten, sich nicht abtreiben zu lassen und auf festem Boden zu landen.
Rechtanwältin Gül Pinar wird an die Universität eingeladen. Sie erklärt, was Rasterfahndung ist. Viele Studenten, so auch der Marokkaner Abdelghani Mzoudi, sind wegen ihrer islamischen Herkunft davon betroffen. Gül Pinar soll eine einstweilige Anordnung vor dem Verwaltungsgericht anstreben und sich um die ausländischen Studenten kümmern.
Gül Pinar platzt der Kragen
Ein Jahr später, im Oktober 2002, wird Abdelghani Mzoudi festgenommen. Er soll an der Planung des Attentats beteiligt gewesen sein. Er will seine Anwältin sprechen, aber die ist schon wieder in den Dolomiten. Sie muss Erfahrungen sammeln mit dem Gleitschirm. Alles, was sie nicht weiß, ist lebensgefährlich. Gül Pinar fliegt 60 Mal im Jahr. Das ist viel für eine Frau aus dem norddeutschen Flachland.
Was die Anwältin über ihren Mandanten nicht weiß, ist sehr viel. Es steht schlecht um ihn. Der Vorwurf wiegt schwer. Man muss warten: auf die Ermittlungsakten, die Anklageschrift. Das Warten dauert über ein halbes Jahr. Es findet unter extremen Bedingungen statt, weil so viele warten. Allein die ganze Weltöffentlichkeit. Gül Pinar liefert sich mindestens 60 Mal im Jahr in den Bergen extremen Bedingungen aus. Im Gerichtssaal platzt ihr manchmal der Kragen. Sie brüllt. „Das macht man nicht“, sagt sie dann. Vor ein paar Tagen spricht die Fachanwältin für Strafrecht in dutzende Pressemikrofone gleichzeitig, obwohl sie damit rechnen muss, dass sich jeder Journalist die Worte aus dem Zusammenhang pflückt, die er braucht.
Sie macht Fehler. Aber einen Fehler macht sie nicht: Sie wird nicht nervös. Sie hält extreme Bedingungen aus. „Es gibt für mich keinen Grund, meinen Mandanten zu fragen, ob er schuldig ist“, sagt sie. „Niemals.“
Niemals verteidigt Gül Pinar Vergewaltiger. Niemals Kinderschänder, auch keine Faschisten. „Aus persönlichen Gründen“, sagt sie. Mzoudi sei auch ein Faschist, wird ihr entgegengehalten. Sie erklärt dann den Paragrafen 129 a. Sie erklärt so viel, wie sie Nichtjuristen erklären kann.
Es ist ein schwieriger Paragraf, in dem es um die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung geht. Innerhalb dieses Paragrafen gibt es viele Konstrukte, die zulassen, dass Handlungen von Personen in Zusammenhänge gebracht werden, so dass ein Strafverdacht entsteht. Politische Gruppen können kriminalisiert werden. Ein Großteil der Prozesse zum 129 a werden irgendwann eingestellt, weil es keine Beweise gibt. Während der Verhandlung kann die Justiz ungestört in den betroffenen Kreisen ermitteln.
Für Mzoudi, 30, den sie zusammen mit Michael Rosenthal aus Karlsruhe verteidigt, befürchtet Gül Pinar das Schlimmste. „Unserem Mandanten werden solche Lappalien vorgeworfen, dass diese Anklage niemals eröffnet worden wäre, ginge es um Beihilfe zu einem, in Anführungszeichen, ‚normalen‘ Mord.“ Es geht darum, den Alltag des Marokkaners zu kriminalisieren. Dass er Attentäter von New York gut gekannt hat, dass er ineiner Wohnung lebte, in der zuvor Todespilot Mohammad Atta gewohnt hat, dass er in einem Al-Qaida-Ausbildungslager war, sind Fakten: Sie stehen in den Ermittlungsakten. Allein wenn sie ausgesprochen werden, erscheint das vollbärtige Gesicht von Mzoudi vor den rauchenden Türmen. Das Nineeleven-Prinzip. Es kann für eine Anwältin nicht gelten. Sie hat ihr eigenes Prinzip: „Die Form ist die Schwester der Freiheit und die Feindin der Willkür.“
Den Satz hat ein Jurist lange vor dem 11. September 2001 gesagt. Vor hundert Jahren. Sie verteidige nicht die Tat, sondern die Rechte des Angeklagten, erklärt Gül Pinar. Sie befürchtet zu Recht das Schlimmste für ihn. Seinen Freund und Landsmann Mounir al-Motassadeq verurteilt das Hanseatische Oberlandesgericht im Februar 2003 zur Höchststrafe von 15 Jahren. Man wirft ihm dasselbe wie Mzoudi vor. Das Gericht ist auch dasselbe.
Warum verteidigen Sie einen Frauenfeind? Auch das wird die Anwältin oft gefragt. Als Antwort nennt sie die Fakten. „Er ist Moslem“, sagt sie. „Er hat mich ausgewählt.“ Im Leben ist es wie vor Gericht: Alles entscheidet sich danach, wie die Fakten gewürdigt werden. In dieser Hinsicht hat es Abdelghani Mzoudi vor Gericht sogar besser als draußen in der Stadt. Im Saal hat er sicher, was das Leben für ihn nicht unbedingt bereithält: Verteidiger.
Platzt ihr der Kragen, hört sich Gül Pinar so an: „Islamische Frauen haben zuweilen Freiräume, von denen manch deutsche Hausfrau nur träumen kann.“ Im Juli kommen endlich die Ermittlungsakten. 111 dicke Ordner. Pinar und Rosenthal fahren aufs Land. Sie lesen, reden, lesen. Selbst zwei Anwälte würdigen Fakten unterschiedlich.
Rosenthal stellt fest, dass sich der Terrorist Atta niemals aus Mzoudis Wohnung abgemeldet hat. Außerdem haben am Briefkasten des Mandanten etliche Namen gestanden. „Oh, das ist aber verdächtig“, sagt Pinar spitz. „Geh mal in Studentenviertel, schau dir die Briefkästen an. Frag mal nach, wer sich bei jedem WG-Wechsel die Mühe macht und sich ummeldet.“
Der Anwalt schaut seine 20 Jahre jüngere Kollegin fassungslos an. Er habe sich in seinem Leben immer ordentlich gemeldet, sagt er. Mzoudi betet fünfmal am Tag. Er ist Moslem. Man kann fünfmal Beten heftig finden. Zu viel. Irgendwie radikal. Na und? Ein Gericht, dass die Gesinnung eines Angeklagten herausfinden will, muss religiöse Gepflogenheiten genau kennen – um sie bei der Suche nach Beweisen für verdächtiges Verhalten gerade nicht zu benutzen.
Gül Pinar lässt nicht locker
Jedoch sitzt die Presse in den Verhandlungen. Die USA gibt den wichtigsten Zeugen nicht heraus. Verhörprotokolle dieses Zeugen wiederum gibt das Bundeskanzleramt nicht frei. Für Gül Pinar geht es im Prozess auf und ab. Der Präsident des Verfassungsschutzes sagt aus, dass die Anschläge nicht in Hamburg, sondern in Afghanistan geplant wurden. Pinar und ihr Kollege jubeln. Dann wird ihr Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls abgelehnt. Man ist mit der Beweisaufnahme am Ende, da taucht eine neue Zeugenaussage auf. Das Bundeskanzleramt überlegt wieder, das Protokoll zu sperren. Man vertagt sich.
Am Donnerstag, den 11. Dezember um 8:28 Uhr kommt ein Fax vom BKA. Die Zeit wird von der Presse so exakt vermeldet wie bei den Flugzeugeinschlägen in die Türme. Der Richter verliest. Jemand hat vor amerikanischen Ermittlern ausgesagt, dass außer den Selbstmordattentätern keine Person in die Planung der Anschläge einbezogen war.
Also auch Mzoudi nicht.
Es gibt keine Information, wer der aussagende Jemand war. Es gibt Vermutungen. Es gibt keinen genauen Absender. Letztlich verbergen sich hinter allem, was geschieht, die USA. Gül Pinar ist darauf trainiert, nicht zu früh locker zu lassen. „Es wird spannend“, sagt sie zum Mandanten.
Am Mittag wird Abdelghani Mzoudi vom Richter aus der Haft entlassen. Die überraschten Anwälte bringen ihn in ein Nebenzimmer, damit er allein sein kann. Pinar spricht gleichzeitig in all die vielen Mikrofone. Sie habe nicht einmal bei ihrer Hochzeit so viel gelacht wie jetzt, wird man sie später zitieren.
„Der Satz ist nicht von mir“, sagt sie. Wenn er ihr in der Hektik doch rausgerutscht ist, dann war das kaum eine wertvolle Erfahrung. „So viele Mikrofone werde ich nie wieder vor der Nase haben.“ Die USA kritisieren die Haftentlassung. Der Generalbundesanwalt legt Beschwerde ein. Das Gericht schmettert sie umgehend ab. Es heißt: „Die Beweisaufnahme hat ergeben, dass der Angeklagte Mzoudi zwar der Beihilfe zum Mord weiterhin verdächtig ist, aber der Verdacht ist nicht mehr dringend.“
Außerhalb des Gerichts ist die Logik dieser Aussage kaum zu begreifen. „Der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung beziehungsweise der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.“ Ein Fax hat Mzoudi gerettet. Drei namenlose Blätter Papier ohne konkrete Herkunft. Sie lassen fast 30 Verhandlungstage, rund 40 Zeugenaussagen unter völlig anderen Voraussetzungen erscheinen. Mit den Voraussetzungen ist das eben so eine Sache.
Und wenn er nun doch schuldig ist? „Es geht nicht um Schuld oder Unschuld“, sagt Gül Pinar. Ihre Aufgabe ist erfüllt, wenn es heute mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit nicht nachzuweisen ist, dass ihr Mandant Schuld hat. Eigentlich will Abdelghani Mzoudi einen Asylantrag in Deutschland stellen. Er hat Angst vor den Amerikanern. Aber der Asylantrag macht so recht keinen Sinn, weil er ihn vor Marokko schützt, nicht aber vor den USA. Gül Pinar hält Gefühle aus gerichtlichen Formalien heraus. So etwas wie Angst wartet draußen vor der Tür. „Ich will nicht, dass er auf Guantánamo endet“, sagt sie.