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Archiv-Artikel

Kraft vom Flohmarkt

Wie arbeitet der künstlerische Nachwuchs im Bereich Bildhauerei? Vor allem mit einem Sinn für Sinnlichkeit und einem Draht zum Übersinnlichen. Zu sehen ist das im Bremer Gerhard-Marcks-Haus

Wieder eine Schnäppchen fürs Atelier gemacht. Diesmal ist es eine chinesische Dame, rund 50 Zentimeter hoch, aus Porzellan. Viel Gold und Tand, das Abbild einer Frau aus adeligen Kreisen. Die niederländische Künstlerin Liet Heringa hat sie auf dem Flohmarkt gefunden, ihr ist „das Benehmen“ der Figur aufgefallen. „Ich mag die Natürlichkeit bei asiatischen Skulpturen. Die Dame wirkte etwas verloren, aber es steckt etwas schönes in ihr.“ Schön, das heißt für Heringa: Energie. Die innere Energie einer chinesischen Kitsch-Figur vom Flohmarkt, die interessiert sie, denn diese Energie will Heringa freisetzen.

Klingt esoterisch, folgt aber eigentlich nur der Methode, zu schauen, was im Material steckt, anstatt mit einer vorgefassten Idee auf das Material loszugehen. Wobei die kleine Chinesin für Heringa und ihren Kompagnion Maarten Van Kalsbeek hergenommen wird als Kern einer wuchtigen, raumgreifenden Skulptur, die aussieht, wie ein Stück Wald nach einem Sturm: Die Grundfläche der Skulptur ist fast so groß wie eine Parkbucht und aus dieser Fläche wachsen bunten Bäumchen, ein Dickicht aus farbigem Kunstharz, Stoff und Garn, steif wie nach einem Eissturm. Das Waldstück als Ganzes hängt an Drahtseilen von der Decke des Bremer Gerhard-Marcks-Hauses, es schwebt in der Luft und kippt seitlich weg. „Die Bewegung ist sichtbar, aber sie ist eingefroren“, sagt Van Kalsbeek. „Es ist wie ein Film-Still. Der Moment des Gefrierens ist sehr schön.“

Die Amsterdamer Heringa und Van Kalsbeek sind ein Künstlerpaar, beruflich wie privat, ebenso wie die beiden Braunschweiger Sandra Munzel und Michael Nitsche. Die vier BildhauerInnen sind zwischen 36 und 43 Jahren alt und gehören damit zur jüngeren Generation in der Szene. Was sie verbindet, ist der Einsatz unkonventioneller Materialien und die Lust auf eine ausdrucksstarke, unmittelbar wirkende Bildhauerei – es geht um das sinnliche Erlebnis als Gegenentwurf zu kopflastiger Konzeptkunst oder feinsinnig austarierten Raum-Expertisen. Zu sehen sind die Werke derzeit in der Ausstellung „Keine Angst vor Schönheit“ – wobei „Schönheit“ gemeint ist als Synonym für das sinnliche Erlebnis.

Und das schwankt durchaus zwischen Abstoßung und Anziehung. Sandra Munzels rund 15 Zentimeter hohe Figuren haben mal Riesenbäuche, mal verwachsene Gliedmaßen und die schimmern wie echtes Gewebe – schwulstig und dabei immer an der Grenze von ekelhaft und schön. „Wenn ich anfange zu arbeiten, dann habe ich keine Idee. Ich verlasse mich darauf, was meine Hände in dem Augenblick machen. Ich bin völlig leer, dann kommt der künstlerische Verstand“ sagt Munzel. Beschäftigt hat sie sich viel mit Märchen, Sagen und Mythen, aber: „Ich kann die Quellen nicht eindeutig definieren. Die Arbeiten überraschen mich selbst, weil sie Gegensätze vereinen. Ich finde widersprüchliche Empfindungen in ihnen wieder– innere Erfahrungen, die ich nicht analysieren kann.“

„Schönheit“, sagt Michael Nitsche, „ist, wenn etwas aufgeht und sich entfaltet und man weiß, im nächsten Augenblick ist es vorbei. Die Vergänglichkeit ist wichtig.“ Nitsche arbeitet mit Munzel nur mittelbar zusammen, „es ist wie bei einer Leiter: Die Holme sind unsere beiden Wege, und die Sprossen sind inhaltliche Gemeinsamkeiten.“ Nitsche baut unter anderem märchenhafte Tiere in märchenhaft-seltsamen Situationen: Zwei Affen küssen sich, wobei einer der beiden wie vom Himmel gefallen in der Luft hängt. Dabei ist das Fell der Affen überzogen von weißem Glibber, wahlweise zu interpretieren als Zuckerguss oder als Schleim-Schutz eines neugeborenen Tieres.

Gefunden hat auch er seine Ausgangsmaterialien auf dem Flohmarkt. Ihm aber geht es bei der Zweitverwertung um die Farben und um die synthetischen Materialien. Das Ziel: „Damit etwas analog zu den Heiligen-Bildern zu machen, die unsere Künstlervorfahren entwarfen.“ Weniger esoterisch. Aber spirituell durchaus. Klaus Irler

„Keine Angst vor Schönheit“: bis 20.2.2005 im Gerhard-Marcks-Haus