: Gelebte Werte
Unfreiwillig freiwillig: Zur 100.000. FSK-Prüfung liegen sich die Filmbranche und der Jugendschutz in den Armen
Grade hatten wir, die Filmprüfer, den neuen „Sophie Scholl“-Film für Kinder ab 12 Jahren freigegeben, da fanden wir uns schon im Wiesbadener Erbenheim in einem Festakt wieder. Es war die 100.000. Prüfung der FSK, Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft. Branche, Jugendschützer und „Sophie Scholl“-Produzent lagen sich in den Armen und versicherten sich gegenseitig völliger Akzeptanz. Der „Sophie Scholl“-Film thronte über allem. In und mit Julia Jentsch haben wir jetzt eine deutsche Jungfrau von Orleans. Standhaft hatte sie sich geweigert, ihren Idealen abzuschwören und dem Naziglauben anzuhängen, sie hätte ihr Leben retten können. Eine Märtyrerin, eine Heilige. Mit Freisler, dem Blutrichter, legt sie sich an, war dieser doch, wie wir erfahren, Sowjetkommissar gewesen und nur auf Bewährung an der Heimatfront … Betretenes Schweigen im Volksgerichtshof.
„Die Spruchpraxis der FSK ist gelebte Wertediskussion“, lobte Steffen Kuchenreuther, Präsident der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft. Auch die zuständige Ministerin, Doris Ahnen, lobte die „einmalige Erfolgsgeschichte“ der Zusammenarbeit von FSK und Jugendmedienschutz, insbesondere die vermittelten „Werthaltungen“. Uns Prüfern glänzten die Augen. Aber wieso war in der hessischen Landeshauptstadt nicht die hessische, sondern die rheinland-pfälzische Ministerin zuständig? Und wieso eine Ministerin für eine freiwillige Einrichtung der Wirtschaft?
Am kürzesten erklärt man dies mit dem vitalen und allseits freudig akzeptierten Zwitterwesen namens FSK, 55 Jahre alt. 1949 der erste geprüfte Film: „Intimitäten“. Ein Mann becirct in einem tollen Fummel einen anderen Mann, der nicht weiß, wie ihm geschieht. Die junge, knackige FSK gab den Film „ab 16“ frei. Nachzulesen wie die folgenden 99.999 Entscheidungen auf den 47 Seiten der Sondernummer des Wiesbadener Kuriers.
Die Institution FSK mutierte ihrerseits in diesen Jahren zu einem allseits geschätzten Zwitterwesen. Gegründet nach dem Krieg, um die Wiederbelebung der staatlichen Filmzensur zu verhindern, und von den Besatzungsmächten begrüßt als Übernahme des amerikanischen Systems, war sie bald genötigt, freiwillig unfreiwillige Verwaltungsakte zu vollziehen. Die Freigabe von Filmen für Kinder und Jugendliche muss in Deutschland behördlich genehmigt werden. Die Jugendschutzgesetze sagen nämlich: Ins Kino gehen ist für Leute unter 18 verboten (sie sagen das nicht für Musikveranstaltungen und Theater). Und: Von diesem Verbot kann es Ausnahmen geben. Weil dies noch heute gilt, ist die Wirtschaftseinrichtung FSK mittlerweile fest mit dem staatlichen Jugendschutz verschweißt. Irgendwie auch als Behörde. Als Jurist wird einem wirr im Kopf, wenn man drüber nachdenkt. Tut man aber nicht, weil die Zwitterkonstruktion bestens funktioniert. Rheinland-Pfalz vertritt die Jugendbehörden in Wiesbaden, das ist ein Ausgleich für das nach dem Krieg entgangene Mainz-Kastel, das sich Hessen unter den Nagel gerissen hatte.
Das Zwitterwesen ist neuerdings umgetauft und heißt private public partnership, wie Folker Hönge, Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden, verkündete. Der Umsatz steigt rasant und erreicht Werte, von der die Wirtschaft ohne public partnership nur träumen kann: 2003 um 23,2 Prozent, 2004 um 19,7 Prozent. Wir Prüfer müssen rackern. Da neuerdings alle DVDs zu prüfen sind, die auf den Markt kommen, müssen wir durch die 1.000 Folgen „Lindenstraße“ hindurch. Es werden danach, schätze ich, die DVDs kommen, die der Theaterkanal vertreibt. Dann werde ich endlich wissen, wieweit ich in den Schlingensief-Stücken jugendgefährdend bin.
Da es heute darum zu gehen scheint, Kinder vor erziehungsinkompetenten Erziehungsberechtigten zu schützen, wird die von FSK und Ministerium verantwortete DVD „Wie wirken Kinofilme auf Kinder?“ zu Rate zu ziehen sein. Die Prüfer haben sie freigegeben, gem. § 14 JuSchG.
DIETRICH KUHLBRODT
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