Aufarbeitung der „bleiernen Jahre“
In Marokko werden ab heute die Aussagen von Opfern der Repression unter König Hassan II. im Fernsehen gezeigt
MADRID taz ■ Marokko arbeitet die „bleiernen Jahre“ öffentlich auf. Ab heute werden Opfer der Repression unter dem verstorbenen König Hassan II. in Fernsehen und Radio über ihr Schicksal reden. Ihre Aussagen vor der Instanz für Fairness und Aussöhnung (IER) werden kommentarlos übertragen. Die IER wurde im Januar dieses Jahres auf Geheiß von König Mohamed VI. gegründet. Sie dokumentiert die Menschenrechtsverletzungen in den Jahren nach der Unabhängigkeit 1956 bis zum Tod des Vaters von Mohamed VI. 1999. Individuelle Verantwortlichkeiten für Folterungen und Verschwindenlassen feststellen oder gar rechtliche Schritte einleiten darf die Kommission allerdings nicht.
Hassan II. ließ systematisch jede oppositionelle Bewegung verfolgen. Bisher sind 20.000 Fälle schwerer Menschenrechtsverletzungen bekannt. 15.000 Opfer haben nach Angaben einheimischer Menschenrechtsorganisationen gesundheitliche Schäden davongetragen. Tausende Menschen waren zeitweise verschwunden. Sie wurden in Kommissariaten und geheimen Haftanstalten gefoltert. Am schlimmsten traf es die Armeeangehörigen, die an zwei Putschversuchen gegen Hassan II. beteiligt waren. Sie verschwanden für knapp zwei Jahrzehnte in geheimen Camps. Das bekannteste, Tazmamart, wurde 1991 nach anhaltenden internationalen Protesten geöffnet. 30 Gefangene erlebten diesen Tag nicht mehr. Sie haben die unmenschlichen Haftbedingungen nicht überlebt. Mittlerweile zahlt Marokko Entschädigungen an die Opfer aus. 5.000 Anträgen wurde bisher stattgegeben. Die Höchstsumme liegt bei 100.000 Euro.
Die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit begann ein Jahr nach dem Tod Hassans II. Mohamed VI. entließ den ewigen Innenminister und starken Mann seines Vaters, Driss Basri. Die marokkanische Presse begann über Fälle von Menschenrechtsverletzungen ausführlich zu berichten. Die exilierten Regimekritiker sind mittlerweile fast alle wieder in ihrer Heimat.
„Sicher ist die Übertragung der Opferberichte ein wichtiger Schritt“, meint der Sprecher der Marokkanischen Assoziation für Menschenrechte (AMDH), eine der beiden großen Menschenrechtsorganisationen des nordafrikanischen Landes, Mohamed el Boukili. Doch die neue Offenheit geht seiner Organisation nicht weit genug. „Wir befürchten, dass das Regime versucht, das Thema Menschenrechtsverletzungen zu beenden, ohne für Gerechtigkeit zu sorgen“, erklärt AMDH-Sprecher El Boukili. Er besteht darauf, die Verantwortlichen gerichtlich zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem sei das Schicksal von mehreren hundert Verschwundenen aus der von Marokko besetzten ehemaligen spanischen Kolonie Westsahara nicht geklärt.
Und was für El Boukili am schwersten wiegt: „Die Aufarbeitung der alten Fälle könnte dazu benutzt werden, von dem abzulenken, was heute in Marokko geschieht.“ Die AMDH spricht von über 1.000 Inhaftierten, die regelmäßig misshandelt werden. Sie wurden alle in Folge der islamistischen Anschläge von Casablanca vom 16. Mai 2003 verhaftet. REINER WANDLER