Der Wurm in mir

TIERSKULPTUREN Die Ausstellung „Tierperspektiven“ im Georg-Kolbe-Museum schaut genau auf Tiere und die Projektionen menschlicher Sehnsüchte. Und auf Überraschungen im Zusammenleben von Mensch und Tier

Das berühmte „Tier in uns“ deutet Nero nicht als ethische Metapher, sondern als biologischen Tatbestand

VON CORD RIECHELMANN

„Tierperspektiven“ heißt die von den Kunsthistorikern Jessica Ullrich und Friedrich Weltzien kuratierte Ausstellung im Georg-Kolbe-Museum. Der Plural im Titel sagt schon, worauf es Kuratoren und Künstlern ankommt: Eine Tierperspektive gibt es nicht, nur viele und zwar so viele wie es Tiere gibt. Darauf weist auch der Sammelband hin, der im Kolbe-Museum an der Kasse neben dem Ausstellungskatolog liegt: „Ich, das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte“. Künstler und Kulturwissenschaftler wenden sich da herausragenden Tieren wie der russischen Mischlingshündin Laika zu, die im November 1957 als erstes Lebewesen die Erde in einem Raumschiff umkreiste.

Das Tier, mit einem Namen versehen, kann so wie Laika, mit Legenden aufgeladen, zu einer Art Matrize werden, in dem sich vor allem Sehnsüchte menschlicher Gesellschaften und ihrer Teilnehmer spiegeln. Da Tiere sich in der Regel nicht mit Gegendarstellungen gegen die ihnen von Journalisten oder Künstlern auf den Leib geschriebenen Eigenschaften und Taten wehren können, liegt in der Zuwendung zum Tier immer auch eine Gefahr: Das Tier wird zum Opfer des Narzissmus seines Herrchens oder Frauchens.

Die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari schreiben deshalb folgenden schönen Satz in ihr Hauptwerk „Tausend Plateaus“: „Alle, die Katzen oder Hunde lieben, sind Dummköpfe.“ Deleuze/Guattaris Verdammung der narzisstischen Spiegelung von menschlichen Besitzern in „ihren“ Haustieren ist so etwas wie der Fluchtpunkt der Tierperspektiven-Ausstellung. Tierperspektiven stehen auch im Zusammenhang mit der am 9. Mai in der NGBK eröffnenden Ausstellung „Tier-Werden, Mensch-Werden“, in der es auch darum gehen wird, zu zeigen, was mit dem Tier passiert, wenn man es vermenschlicht im Sinne der narzisstischen Spiegelung.

Wie in den „Tiersperspektiven“ mit dieser Gefahr umgegangen wird, das deutet Friedrich Weltzien im Katalog in einem Satz an. Tiere, schreibt er da, seien auch nur Leute. Das ist eine feine Verschiebung einer Anekdote um den Begründer der modernen Verhaltensforschung und weltberühmten Gänsevater Konrad Lorenz, die so geht: Lorenz hielt seine Graugänse für streng, treu und monogam. Als eine Mitarbeiterin ihn mit den Tatsachen vertraut machte – nur etwa die Hälfte der Gänse war wirklich partnertreu – tat sie das mit den vorsichtigen Worten, Gänse sind schließlich auch nur Menschen.

Bei Weltzien sind aus den im Artbegriff eingeschlossenen Lorenz’schen Graugänsen allgemein unbestimmt Tiere geworden und aus Menschen einfach Leute. Man kann daraus zwei Schlüsse für die Konzeption der Tierperspektiven ziehen: Vom Artbegriff, wie ihn die moderne Systematik in der Biologie konzipiert hat, halten die Kuratoren genauso wenig wie von einer Anthropologie, die dem Menschen ein allgemeines überzeitliches Wesen zuschreibt. Für sie gibt es nur bestimmte Tiere und Leute, und um die zu sehen, muss man schon genau auf den schauen, der vor einem steht.

Und das wird im Kolbe-Museum gleich bei einem der ersten Ausstellungsobjekte klar. Der Kölner Bildhauer Thomas Grünfeld hat den ausgestopften schwarzen Leib eines Lammes mit einem genauso behandelten Dachskopf versehen. „Misfits (Dachs/Lamm)“ heißt die Arbeit und der Effekt ist im besten Sinn verblüffend. Es stellt sich nämlich nicht die Kippfigur-Wahrnehmung ein, die einmal einen Dachs und ein andermal ein Lamm wahrnimmt, aber beides zusammen nie hinbekommt. Bei Grünfeld sieht man Misfits, Dachs und Lamm gleichzeitig.

Genauso ergeht es einem mit Deborah Sengls Arbeit „Der Wolf – als Räuber – enttarnt sich seine begehrte Beute“. Ein mit einem Schaffell, Schafsbeinen und Wolfsmaul dasitzendes Objekt heult den Mond oder Himmel an und verkörpert den fabelhaften „Wolf im Schafspelz“. Neben dem Tier hängt dazu eine Zeichnung vom Bauplan des Objektes an der Wand, die naturwissenschaftlichen Zeichnungen nachempfunden ist. Besser hat man die scheinbare naturwissenschaftliche Objektivität mit naturwissenschaftlichen Mitteln selten in der Kunst aufgehoben gesehen. Für nur diese beiden Werke hätte sich die Ausstellung schon gelohnt.

Die gegebene Uneindeutigkeit von Lebewesen selbst im Sprichwort setzt der Berliner Künstler Benny Nero auf eine überhaupt nicht appetitliche Weise fort. Das berühmte „Tier in uns“ deutet Nero nicht als ethische Metapher, sondern als biologischen Tatbestand. Kein Mensch lebt allein ohne fremde Lebewesen auf der Haut oder in seinen inneren Organen. Bei Nero erscheinen diese Lebensgemeinschaften allerdings nicht als friedliche Symbiosen. Nero zeigt sie als Gestalter menschlicher Körper wie der Wurm Brugia malayi, der der Verursacher der Elephantiasis ist, einer Krankheit, die besonders die Beine und Genitalien von Menschen monströs verunstalten können. Angenehm ist diese Art des Zusammenlebens mit Tieren für die Opfer bestimmt nicht.

■ Georg-Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25, Di.–So. 10–17 Uhr, bis 21. Juni ■ NGBK, Oranienstr. 25, tägl. 12–18.30 Uhr, „Tier-Werden, Mensch-Werden“, Eröffnung 8. Mai, 19 Uhr, bis 14. Juni