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Archiv-Artikel

Spiel mir das Lied vom Tod, Schildkröte!

„Tierfilme erzeugen die Illusion einer von Menschenhand unberührten Natur“, sagt die Dokumentarfilm-Expertin Ariane Heimbach. Die Inszenierung folgt dabei den gängigen Hollywood-Mustern: Die Filme erzeugen Emotionen – und zwar über die Identifikation mit den Protagonisten

taz: Frau Heimbach, warum sind Tierdokumentationen so beliebt?

Ariane Heimbach: Verkürzt könnte man sagen, dass wir uns Tierfilme anschauen, weil wir nicht mehr mit Tieren zusammenleben. Die Tiere, die für uns das Naturhafte, Wilde verkörpern, sehen wir nur im Fernsehen oder im Zoo. Tierfilme erzeugen die Illusion einer von Menschenhand unberührten Natur.

Alles nur Fake?

Viele Tierfilme sind heute nach Hollywood-typischen Mustern inszeniert und geschnitten. Sie sollen dem Zuschauer das Gefühl geben, an einem wirklichen Geschehen teilzunehmen.

Welche Element des Spielfilms werden benutzt?

Es werden Geschichten erzählt. In der britischen Serie „Spiele des Lebens“ gibt es eine Sequenz über den Kampf zweier Pflugschildkröten. Diese ist genauso gedreht worden wie eine Duellszene aus Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“. Als Zuschauer sieht man, wie eine Schildkröte die andere fixiert. Doch wenn die Schildkröte von vorn gefilmt wird, dann schaut sie in diesem Moment in die Kamera und nicht ihren Gegner an. Das sind Inszenierungsweisen.

Welchen Effekt erzeugt man damit?

Die Filme erzeugen Emotionen, und zwar durch Identifizierung mit den Protagonisten. Wenn zum Beispiel ein kleines Gnu-Kalb allein in der Steppe herumläuft und seine Mutter nicht findet. Dann sagt der Kommentator die Emotionen steuernd aus dem Off: In der Nähe steht ein Löwe. Das nächste Bild zeigt einen Löwen, der das kleine Gnu beäugt. Der Löwe kann aber auch zehn Stunden später dort gestanden haben oder in eine ganz andere Richtung schauen.

Welche Geschichten aus dem Tierreich kommen an?

Das ewige Thema ist das Fressen und Gefressenwerden, es geht um Opfer und Täter. Es geht um Liebe, um Fortpflanzung und um Sex. Über Albatrosse wird berichtet, dass sie eine eheähnliche Beziehung eingehen, Männchen und Weibchen bleiben 30 Jahre lang zusammen. Das ist natürlich eine Vermenschlichung.

Sind Tiere heutzutage auch nur Menschen?

Ohne Vermenschlichung geht es nicht. Wir kennen keine anderen Kategorien, um die Tierwelt zu begreifen.

Sind die Tiere uns näher gekommen?

Nein, mir ist aufgefallen, dass in neueren Filmen wie „Nomaden der Lüfte“ eher mit dem Geheimnis gespielt wird. Früher wurde alles enträtselt. Der allwissende Kommentator hat aus dem Off aufgeklärt.

Sind Tiere im Film Träger moralischer Eigenschaften?

Die Moral wird durch den Menschen hineingetragen. Im Film „Deep Blue“, der im Februar ins Kino kommt, sind Orcas, so genannte Killerwale, die Bösen. Man sieht, wie sie sich an den Strand schwemmen lassen, wo die kleinen Robbenbabys spielen. Diese schnappen sie sich, schwimmen mit ihnen raus aufs Meer und klopfen sie weich. Das sieht äußerst brutal aus.

So spielt das Leben. Oder gibt es auch für die Grausamkeiten der Natur eine Schmerzgrenze?

In der TV-Serie „Unser blauer Planet“ ist zu sehen, wie eine Eisbärenmutter mit ihrem Jungen durch die weiße Einöde streunt. Sie muss ihrem Jungen etwas zu Fressen erjagen und klopft auf den Boden, wo die Robbenbabys in ihren Höhlen liegen. Es geht um Eisbärenkind gegen Robbenkind, man bangt mit beiden mit. Das Robbenkind entwischt.

Ein Happy End?

Ja. Man zeigt nicht, wie ein Baby gefressen wird, das wäre sicher negativ für die Einschaltquoten. Vielleicht sitzen die Leute ja gerade beim Abendbrot.

Und wie bewerten Sie diese Emotionalisierung?

Als Filmwissenschaftlerin kritisiere ich sie. Es ist unehrlich, wenn Regisseure so daherkommen, als würden sie uns Natur zeigen. Aber als Zuschauerin schaue ich mir Tierfilme gerne an. Sie haben etwas Tröstliches.

INTERVIEW: ANNA LEHMANN