piwik no script img

Archiv-Artikel

Kosmisches schwarzes Loch

Trotz einer miserablen Leistung ergattert der FC Bayern München mit dem 2:2 nach 0:2-Rückstand noch einen Punkt gegen den VfB Stuttgart und entreißt den Schalkern die Wintermeisterschaft

AUS MÜNCHENJÖRG SCHALLENBERG

Duselbayern, Duselbayern, Duselbayern! So, jetzt ist es raus – und nicht mal Uli Hoeneß wird deshalb zürnen. Denn der sonst begrenzt für Kritik zugängliche Bayern-Manager war nach dem Schlusspfiff am Samstag der Erste, der noch im Kabinengang zugab: „Heute haben wir richtig Glück gehabt.“ Der VfB Stuttgart, so befand Hoeneß, habe im Münchner Olympiastadion über eine Stunde lang „meisterlich aufgespielt“ – um in der 89. Minute doch wieder bedröppelt den jubelnden Bayern-Profis hinterherzuschauen, die versuchten, Paulo Guerrero auf seinem Jubel-Schaulauf einzufangen.

Der 19jährige Bayern-Jungprofi aus Peru hatte gerade bei seinem sechsten Bundesliga-Einsatz zum fünften Mal getroffen, dem FC Bayern das 2:2-Unentschieden gerettet und damit sichergestellt, dass die Münchner an der Tabellenspitze überwintern dürfen. Verdient war der Ausgleich in vorletzter Minute sicher nicht – und wenn Uli Hoeneß später relativierte, dass dieser Punktgewinn halt „das Glück des Tüchtigen“ sei, dann konnte er allenfalls seine eigene Leistung der vergangenen 25 Jahre meinen, aber nicht das, was die Bayern-Profis in den abgelaufenen 90 Minuten geboten hatten.

Statt als einst von Real Madrid gefürchtete „schwarze Bestien“ präsentierten sich die Bayern in ihren tiefnachtdunklen Champions-League-Trikots als eine Art fußballkosmisches schwarzes Loch, das jeden Ansatz von Spielwitz auf rätselhafte Art und Weise zu verschlucken schien. 66 Minuten dauerte es, bis der FC Bayern im Heimspiel zur ersten Ecke kam – da stand es nach jeweils Eckbällen und Toren (von Silvio Meißner und Kevin Kuranyi) bereits 2:0 für den VfB Stuttgart.

Dabei spielten die Gäste nicht mal brillant auf, doch die leichtfüßigen Kombinationen und Dribblings, mit denen neben dem überragenden Aliaksandr Hleb auch Christian Tiffert, Andreas Hinkel, Kevin Kuranyi oder Cacau schnell und künstlerisch wertvoll das Spielfeld überbrückten, ließen die Bayern wie eine müde Arbeiterkolonne auf Bundesliga-Schichtarbeit erscheinen. Mitunter auch als üble Tretertruppe: Dass Owen Hargreaves nicht vom Platz flog, obwohl er die Achillessehne von Hleb konsequent als Angriffsziel für seine Stollen benutzte, war nur der falsch verstandenen Großzügigkeit von Schiedsrichter Herbert Fandel zu verdanken. Dass die Bayern-Fans in der Südkurve wütend „Wir woll’n euch kämpfen sehen“ skandierten, war da wohl ein Missverständnis. Torchancen ergrätscht man sich doch eher selten. Gegen die auch ohne die Stammkräfte Zvonimir Soldo und Fernando Meira defensiv bestens organisierten Stuttgarter wurden spielintelligente Ideengeber wie Mehmet Scholl und Sebastian Deisler so schmerzlich vermisst wie selten. Roy Makaay verweigerte zudem bis auf eine Torchance derart konsequent seine Teilnahme am Kick, dass es Ersatzmann Vahid Hashemian als persönliche Beleidigung empfinden musste, erst in der 88. Minute eingewechselt zu werden. Vor dem 0:2 versuchte Oliver Kahn dann mal wieder, einen knallharten Schuss – in diesem Fall von Cacau – zu fangen, statt ihn wegzuboxen. Mit dem Ergebnis, dass die Silberkugel von der breiten Brust des Torminators vor die Füße von Kuranyi prallte, der nur noch einzuschieben brauchte.

Nach 65 Minuten war der FC Bayern hinter Schalke 04 und Stuttgart auf Platz drei der Tabelle durchgereicht worden. Auf der Bank begann Uli Hoeneß, wie er später eingestand, im Kopf schon einmal seine Rede für die Weihnachtsfeier am Abend umzuformulieren – da fiel der Ball urplötzlich vor die Füße von Claudio Pizarro, der per Volleyschuss zum 1:2 traf. Wenn jemals ein Tor aus dem sprichwörtlichen Nichts, wenn nicht gar aus einem schwarzen Loch heraus gefallen ist – dann dieses.

Den Rest der Dramaturgie kennt man in München und Gelsenkirchen bestens: Nur Sekunden, nachdem Joker Guerrero einen Abstauber zum 2:2 nutzte, leuchtete auf der Anzeigetafel der Ausgleichstreffer von Freiburg bei Schalke auf: Bayern war mal wieder Herbstmeister und ein bisschen Mythos gerettet. Worauf Michael Ballack nach Spielende umgehend ein Anflug von Größenwahn ereilte, als er voller Überzeugung feststellte, dass man bei etwas mehr Nachspielzeit „wahrscheinlich noch gewonnen“ hätte. Angesichts der ungläubigen Blicke ringsum hielt er dann aber inne – und räumte grinsend ein: „Das wäre des Guten wohl etwas zu viel gewesen.“ Etwas!

Bayern München: Kahn - Kuffour (46. Schweinsteiger), Lucio, Demichelis, Rau (88. Hashemian) - Hargreaves, Ballack - Frings, Zé Roberto (62. Guerrero) - Pizarro, MakaayVfB Stuttgart: Hildebrand - Stranzl, Babbel, Delpierre - Tiffert, Hinkel, Meißner, Lahm - Hleb (77. Heldt) - Kuranyi, Cacau (90. Gerber) Zuschauer: 63.000; Tore: 0:1 Meißner (29.), 0:2 Kuranyi (65.), 1:2 Pizarro (67.), 2:2 Guerrero (89.)