PETER UNFRIED über CHARTS
: Und Marion floh auf dem Golfwägelchen

Mein Moment des Jahres: Wie Jon Drummond in Sacramento inmitten eines Dopingskandals „Respekt“ schreit

Wenn ich in diesen Tagen die neuen, alten Dopinganklagen gegen die ehemals populärste und wichtigste Leichtathletin der Welt lese, muss ich daran denken, wie ich sie in diesem Sommer am Ende der Welt mal auf einem Golfwägelchen fliehen sah. Das war bei den Trials, der US-amerikanischen Olympiaqualifikation in Sacramento, Kalifornien.

Die Balco-Sache, die mutmaßlich größte bekannt gewordene Dopingaffäre in den USA, war auf dem medialen Höhepunkt. Auch Olympiasiegerin Marion Jones wurde verdächtigt. Nun hatte sie gerade die 100 m hochkantig verloren. Und ratterte auf dem weißen Golfwagen hektisch davon. Am Ende des Tages blieb ein trauriger Quote von ihr zurück, den eine Reporterin auf der Flucht aus ihr herausgepresst hatte. Ich schrieb ihn in mein Büchlein: „Wenn ich mit euch Leuten rede, schreibt ihr was Negatives. Rede ich nicht, schreibt ihr auch was Negatives. Also verbringe ich die Zeit lieber mit meinem Sohn. Thank you very much.“

Ja, danke. Der Sohn heißt übrigens Monty Junior. Tags drauf sah man seinen Vater fliehen, den 100-m-Weltrekordler Tim Montgomery. Diesmal zu Fuß. Montgomery war, vorsichtig formuliert, noch hochgradiger des Dopings verdächtig.

Die glücklichen Sieger wollten Gott danken, über ihr großartiges Land reden und die große Ehre, es bei Olympia vertreten zu dürfen. Darüber sollten wir Journalisten berichten. Wir wollten aber nur über das Designersteroid THG reden, das Conte von einem Labor bei San Francisco aus vertrieb. Bald strahlten die Athleten nicht mehr, sondern blickten uns alle so finster an wie Jones auf der Flucht. Dann kamen die Olympiatrainer Sue und George und sagten, Tausende seien sauber. Jedenfalls gingen sie davon aus. Darüber sollten wir berichten. Irgendwann sagten sie, na ja, man stecke nicht drin. Da fragten wir George, wie das mit der hochgradig verdächtigen Athletin sei, die er selbst trainiere. George sagte finster, er trainiere sie nicht mehr. Ach, seit wann? Seit zwei, drei Wochen. Keine Zeit. Ob wir darüber berichten sollten, sagte er uns nicht.

Es fing dann richtig an zu brennen, als Mister Jon Drummond auftrat. Drummond war über viele Jahre ein bisweilen sehr erfolgreicher, aber immer sehr kommunikativer Sprinter. Nun stand er im Hornet Stadium an einem Zaun hinter dem Ziel und forderte eine andere Berichterstattung. Heldenberichterstattung. „Ihr könnt nichts beweisen, ihr spekuliert nur“, sagte er. So lange das so sei, müsse man positiv berichten. Er wolle Respekt. Er verdiene Respekt. Es war wie immer bei Drummond. Er groovte sich in Fahrt. Irgendwann stand tout Sacramento um ihn rum. Er kenne ihn doch seit vielen Jahren, sagte er zu einem Reporter der New York Times. Stimmt, antwortete Jere Longman. Da müsse er ihn doch gottverdammt für sauber halten. Longman sagte nichts.

„Halten Sie mich für sauber oder halten Sie mich nicht für sauber“, schrie Drummond. Und zwar ungefähr zwanzigmal. Longman lächelte freundlich und sagte jedesmal: „I don’t know“, er könne das nicht beantworten. Habe er nicht seit 1989 alle Dopingtests bestanden, fragte Drummond. Longman antwortete, der Witz bei Designersteroiden sei, dass sie nicht nachweisbar seien.

Tja, und das ist das Kernproblem der Balco-Entwicklung. Mit ihr hatten auch die Sportjournalisten ihre Arbeitsgrundlage verloren. Die gute, alte, bequeme Regel: Wer nicht erwischt ist, ist ein Held. Was nun? Vielleicht waren auch wir deshalb so aggressiv und sauer. Ich dachte an Trainer George, der uns gesagt hatte, man habe die wunderbarsten und saubersten Athleten der Welt – und werde wie immer die meisten Medaillen holen. Irgendwann schrie Drummond: „Mann, selbst wenn du dopst, musst du immer noch jeden beschissenen Tag im Regen trainieren, musst Gewichte stemmen und den ganzen Scheiß.“ Das war, mal abgesehen vom Privaten, mein Moment des Jahres. Das erste Mal, dass ich in Sacramento sicher sein konnte, das jemand die gottverdammte Wahrheit gesagt hatte.

Fragen zum Heldenfall? kolumne@taz.de Morgen: Jenni Zylka PEST & CHOLERA