: Überraschende Auskünfte
11. September: Zwei Angeklagte, zwei Prozesse, ein Urteil, eine Haftentlassung – in den weltweit einzigen Al-Qaida-Verfahren wird die Indizienlage immer dürftiger
Die Aufarbeitung der Terroranschläge vom 11. September 2001 war dieses Jahr nicht nur in den USA, sondern vor allem auch in Hamburg Thema. Denn in der Hansestadt wurden die beiden weltweit ersten Prozesse verhandelt, in denen Freunden der Todesflieger um Mohammed Atta vorgeworfen wurde, die Attentäter bei ihren Vorbereitungen unterstützt zu haben. Mounir El Motassadeq wurde deshalb im Februar wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum 3.045-fachen Mord zur Höchststrafe von 15 Jahren Haft verurteilt. Das zweite Verfahren gegen seinen Kommilitonen Abdelghani Mzoudi dauert noch an.
Beide Prozesse sind davon geprägt, dass die Strafkammer des Oberlandesgerichtes einerseits der Erwartung ausgesetzt ist, Mitschuldige der Anschläge zur Verantwortung zu ziehen, dies andererseits aber ohne das erforderliche Beweismaterial erbringen soll. Streitpunkt zwischen Verteidigung, Bundesanwaltschaft und Gericht war schon im ersten Verfahren, dass sowohl die US-amerikanischen Behörden als auch die bundesdeutschen Geheimdienste und das Bundeskanzleramt dem Gericht die Aussage des mutmaßlichen Al-Qaida-Drahtziehers Ramzi Binalshibh vorenthalten haben. Im Prozess gegen Motassadeq hat das jedoch das Gericht nicht davon abgehalten, die Höchststrafe auszusprechen.
Auch im Verfahren gegen Mzoudi sah es über Monate so aus, als strebe die Kammer unbeirrt eine Verurteilung an. Bis am 11. Dezember etwas Unvorhergesehenes geschah: Das Bundeskriminalamt gab die Aussage einer „Auskunftsperson“ preis, laut derer allein die Todesflieger Atta, Marwan Al Shehhi und Ziad Jarrah in die Attentatspläne eingeweiht waren, nicht aber Bekannte wie die beiden in Hamburg Angeklagten. Alle Beteiligten gehen davon aus, dass es sich bei der „Auskunftsperson“ um den von den USA gefangen gehaltenen Binalshibh handelt – und dass dessen Aussage auch dem BKA schon seit Monaten vorliegt.
Dem Vorsitzenden Richter ist daraufhin der Kragen geplatzt. Nur wenige Stunden später war Mzoudi in Freiheit, nach über einem Jahr Untersuchungshaft entließ ihn das Gericht aus dem Gefängnis.
Auch die Anwälte von Motassadeq haben daraufhin umgehend beantragt, ihren Mandanten aus der Haft zu entlassen. Schließlich entlastet ihn die Aussage der „Auskunftsperson“ ebenso. Das aber hat das OLG abgelehnt. Denn bei Motassadeq läuft noch die Revision, über die der Bundesgerichtshof (BGH) Ende Januar verhandeln wird. Und die Entscheidung über das Schicksal Motassadeqs hat das OLG an die höhere Instanz delegiert. Elke Spanner