: „Der deutschen Arroganz fehlt das Gedächtnis“
taz: Sie lieben dieses Russland?Wolfgang Eichwede: Ja, ich habe dieses Land gern, seine Menschen, seine Städte, habe auch eine Fülle von Erinnerungen, und Freundschaften, kenne Menschen, die ich nie und nimmer missen möchte. Ähnliches gilt für Prag. Auch für Ungarn. In den späten 70er Jahren hatte ich das Glück, mit Zirkeln der Bürgerrechts-Bewegungen in Kontakt zu kommen, ja, mich richtig in sie hinein zu leben. Und auf diese Weise die Länder nicht nur von ihren offiziellen Fassaden her kennen zu lernen, sondern in ihren Grauzonen, Zwischentönen und oft geheimnisvollen Alternativen.
Beispielsweise lernte ich Milos Hajek kennen, einen Historiker, der schon gegen die deutsche Okkupation der Tschechoslowakei Widerstand geleistet hatte und damals von den Besatzern zum Tode verurteilt, aber praktisch per Zufall nicht hingerichtet wurde. 1945 war er begeisterter Kommunist, später Reformer im Sinne Alexander Dubceks, nach dem Prager Frühling verlor er 1969 seinen Job. Im Untergrund schrieb er ein dickes Buch über die Kommunistische Internationale, begeistert von Rosa Luxemburg. 1977 unterschrieb er die „Charta 77“, das grundlegende Manifest der tschechoslowakischen Menschenrechtsbewegung. Als ich das erste Mal in seine Wohnung trat, mich mit einem Kennwort vorstellte, war seine Antwort: „Ihr könnt hier völlig frei reden, jedes Wort wird abgehört.“ Bei späteren Begegnungen wurde die Musik laut gestellt, dreimal hintereinander haben wir die Moldau gehört und uns auf Zetteln unterhalten. In einem Feuerchen wurden die Papierchen sofort verbrannt. Vom Haus gegenüber schaute eine Kamera zu. Solche Erlebnisse prägen sich tief ein. Gleiches gilt für Russland.
Ein Institut zu gründen, das Schriften der Bürgerrechts-Opposition in den realsozialistischen Ländern sammelt, galt früher als Störung der Entspannungs-Diplomatie. Egon Bahr muss dieses Osteuropa-Institut ein Dorn im Auge gewesen sein.
Der erste Anstoß zur Forschungsstelle kam von dem tschechischen Journalisten Jiri Pelikan, Sozialist in Italien. Er hatte schon 1977 Willy Brandt auf den intellektuellen Untergrund in Osteuropa hingewiesen und ihm geraten, die Zeugnisse dieser Szene – Schriften des Samisdat – in einer wissenschaftlichen Einrichtung sammeln zu lassen. Brandt hatte seine eigenen Emigrationserfahrungen, nahm den Hinweis von Pelikan auf und sprach Hans Koschnick an, der sich seinerseits mit mir in Verbindung setzte. Im Übrigen war der Gedanke reizvoll, in dieser linken, als rote Kaderschmiede verschrienen Universität ein Institut zu bauen, das sich mit Oppositionsbewegungen in den kommunistischen Staaten beschäftigt.
Der derzeitige Rektor der Universität, Wilfried Müller, hat erzählt, es habe viel Kritik von „links“ an der Idee des Institutes gegeben und nur eine ganz knappe Mehrheit dafür im Akademischen Senat.
An Pfeffer und Polemik hat es in der Auseinandersetzung nicht gefehlt. Heute finden die, die damals gegen das Institut votiert haben, die eigenen Argumente grotesk.
Einwände gab es auch von Strategen der Entspannungspolitik in der SPD wie Egon Bahr?
Bahr dachte und denkt bis heute in sicherheits- und machtpolitischen Kategorien. Damals jedenfalls war er ein Etatist und hatte keine Antenne dafür, dass den Regierungen des Warschauer Paktes, mit denen er seine Sicherheitspolitik baute, der Boden zu Hause unter den Füssen wegbrach. Gleichzeitig muss man sehen, dass der Abbau des deutschen Feindbildes es dem Ostblock erschwerte, ein Block zu bleiben.
Die aktuelle Entwicklung in Russland macht Ihnen Sorgen. Was tut sich da?
Immer und immer wieder muss man sagen: Die Umbrüche in Osteuropa vor 10, 15 Jahren waren friedliche Revolutionen. Sie haben dem Kontinent eine zivile Option gegeben. Ohne sie gäbe es nicht unsere heutige Vorstellungswelt von civil society. Das ist eine Zäsur in der europäischen Geschichte, von der wir bis heute leben. Die Französische Revolution endete im Terror und in den napoleonischen Kriegen, die russische, tschechische und polnische kennt keine Guillotine.
Und doch muss man sehen, dass sich Markt und Eigentum nirgendwo in der Geschichte nach ästhetischen Gesichtspunkten oder humanen Kriterien allein entwickelt haben. Englands Aufstieg wäre ohne die britische Piraterie kaum denkbar, die Medici haben ihren Reichtum auch nicht mit Samthandschuhen erwirtschaftet. Es ist eine geschichtslose Illusion, zu glauben, dass unsere Maßstäbe von heute schon immer bei uns gegolten hätten. Daher müssen wir unseren großen Nachbarn im Osten Europas in seinen historischen Möglichkeiten verstehen. Was ich als politisch engagierter Mensch heftig kritisieren mag, kann dennoch eine geschichtliche Erklärung haben.
Zur aktuellen Entwicklung: Offensichtlich tobt in der russischen Führung ein heftiger Machtkampf zwischen denen, die man als „Machtministerien“ bezeichnet, und Vertretern des neuen, sehr erfolgreichen und rasend schnell reich gewordenen Business, den so genannten Oligarchen. Bislang gab es eine Balance, nun scheint es als hätten die alten Sicherheitsapparate ein Übergewicht gewonnen. In den Wahlen am 7. Dezember haben sich ausschließlich „Parteien der Macht“ und nationalistische oder kommunistische Kräfte durchgesetzt, wenn Sie so wollen, eine nicht-demokratische Partei und eine anti-demokratische. Ein liberales Russland droht in weite Ferne zu rücken.
Viele haben Angst vor der Instabilität dieses riesigen Landes.
Russlands Stabilität in den letzten zehn Jahren resultierte aus der Vielzahl seiner Widersprüche. Wenn es nur einen Widerspruch gäbe, würde er das Land auseinander reißen. In den Konflikten selbst liegen auch Lernpotentiale, der Zwang zu Kompromissen und zu Regelungen. Daher gehört es zu Putins Strategie, das zerrissene Land durch die Beschwörung seiner Größe zusammen zu halten. Gefeiert werden die Zaren wie Lenin, Stalin und Sacharow. Verehrt wird die Orthodoxie, gesungen wird die Sowjethymne: Alles, was Russland groß macht. Das ist der Versuch, aus Fragmenten etwas Neues zu bauen. Im Übrigen habe ich den Eindruck, dass wir immer gerne glauben, Russland fürchten zu müssen: Früher seine Stärke, gegenwärtig seine Schwäche.
Die Probleme beim Austausch der geraubten Kunstgegenstände zeigen, dass wir von Normalität noch weit entfernt sind.
Anfang der 90er Jahre war die deutsche Seite allzu starr. Offenbar waren wir froh, wenigstens einmal im Kontext des Zweiten Weltkrieges Recht zu haben. Um sich gegen die permanente Wiederholung des deutschen Rechtsstandpunktes zur Wehr zu setzen, begann die russische Seite, ihr eigenes Recht zu basteln. Vielleicht haben wir sie in diese Position hineingetrieben zu einer Zeit, in der Kompromisse möglich gewesen wären. Ich kenne keinen Gesprächspartner in Moskau, der unter historischen Gesichtspunkten einsehen würde, an den ehemaligen Aggressor etwas abgeben zu müssen ohne etwas dafür zu erhalten. Völkerrechtliche Ansprüche stehen gegen Ansprüche der Geschichte. Zumal gleichzeitig Deutschland die Frage nicht beantworten kann, wo denn die geraubte russische Kultur geblieben ist.
In einem halben Jahr werden Polen und Tschechien Mitglieder der Europäischen Union. Die historischen Probleme scheinen längst nicht gelöst.
Der Name von Eduard Benès hat in Deutschland einen gänzlich anderen Beiklang hat als in Tschechien. Mag Benès auch Fehler gemacht haben, für meine Prager Freunde und Bürgerrechtler ist er ein Symbol des Widerstandes gegen die deutsche Diktatur. Schließlich hat er auch vielen Deutschen geholfen, die vor Hitler fliehen mussten. Nicht wenige Wissenschaftler aus Berlin, die in der Prager Emigration an der dortigen deutschen Universität mit Heil Hitler von den Studenten niedergeschrien wurden. Benès gab ihnen die Möglichkeit, an der tschechischen Karls-Universität zu lehren. Die Tschechoslowakei war von Deutschland zerstört worden. Viele der sich als deutsch definierenden Sudeten haben keinerlei Anstrengungen gemacht, die Tschechoslowakei gegen Hitler zu verteidigen, im Gegenteil. Sie haben mit überwältigender Mehrheit Hitler begrüßt und damit aus tschechischer Sicht Hochverrat begangen. Das rechtfertigt nicht Rache nach dem Krieg, dennoch müssen wir sehen: Die Vertreibung, so schlimm sie war, war auch eine Antwort auf die vorangegangene Vernichtungspolitik. Mit Deportationen haben nicht die Tschechen begonnen, sondern die Deutschen, die 1938-39 Tschechen vertrieben haben.
Das ist Geschichte, die sich nicht zurückdrehen lässt.
So könnte eine souveräne Reaktion aussehen. Es wird viel über Entschädigungen gesprochen. Können die Kinder ihre Väter wieder lebendig machen, die im Krieg von Deutschland umgebracht wurden? Warum soll man für ein Haus Entschädigungen bekommen und für den getöteten Vater nicht? Geht die Diskussion so weiter, halte ich es für denkbar, dass die großen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges aufgefordert werden, ein klärendes Wort zu sagen und zu bestätigen, dass Polen und die Tschechoslowakei nicht ohne ihre Zustimmung gehandelt haben. Im Kern finde ich die Entwicklung gut, dass wir heute das Völkerrecht um die Strenge individuellen Rechts ergänzen. Soldaten müssen wissen, dass sie für das, was sie im Kriege tun, auch individuell nach dem Kriege haftbar gemacht werden können. Macht man dieses rückwirkend, wird nicht nur die Vertreibung zur Debatte stehen, sondern die gesamte Vernichtungspolitik Hitlerdeutschlands. Die einseitige Hochstilisierung der Vertreibungsfrage in dem geplanten Berliner Zentrum verfügt offensichtlich das Ziel, die eigene Schuld zu relativieren. Denkmal contra Denkmal bleibt im Proporz. Damit wird aber nicht nur die Geschichte vor 1945 ausgeblendet oder verzerrt. Auch Schritte des Ausgleichs und der Verständigung seither werden gefährdet. Vor allem aber übersehen wir den Anteil, den Tschechen und Polen in der Überwindung von Europas Teilung – und damit auch der deutschen – geleistet haben. Vergessen ist offenbar unsere Begeisterung für Alexander Dubceks Prager Frühling, für die Courage von Vaclav Havel und die soziale Kraft der Solidarnosc. Der deutschen Arroganz fehlt das Gedächtnis.Fragen: Klaus Wolschner