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Archiv-Artikel

berliner szenen Last der Geschichte

Das schuldhafte Fahrrad

Die beiden passten gut zusammen: Sie trug meist Blau, und ihr Fahrrad war rot. Es war schwer und stabil, mit zwei Stangen, edel geschwungenem Lenker und angenehmen Dahingleiteigenschaften. Aus den Fünfzigerjahren vielleicht. Sie hatte es in der Bastelabteilung eines Kreuzberger Fahrradgeschäfts gekauft und ein paar schöne Touren damit unternommen. Doch irgendendwas stimmte nicht. Sie pflegte es ordentlich abzustellen, und wenn sie zurückkam, lag es auf dem Boden. Einmal hatte auch jemand die Hinterreifen zerstochen und Flugblätter auf den Sattel geklemmt, in denen die Verbrechen des Konzerns aufgezählt wurden, der damals Zyklon-B hergestellt hatte und heute für die Antigraffitibeschichtung des Holocaust-Mahnmals zuständig ist. Zu spät hatte sie gemerkt, dass das Rad von Degussa kam. Zumindest war ein kleines Schild aus Eisen an das Rad montiert, auf dem „Degussa-AG Werk Kalscheuen“ stand. Vermutlich war es von einer anderen Firma hergestellt worden, hatte aber eine Weile in den Diensten des Problemkonzerns gestanden. Ob freiwillig, unfreiwillig oder auch, was es dort gemacht hatte, spielt keine Rolle. Wahrscheinlich dachten die, die es beschädigt hatten, sie habe das Degussa-Schild extra drangelassen, als verstecktes Gesinnungszeichen, wie weiße Schnürsenkel an Doc-Martens-Schuhen etwa. Vielleicht war ihnen das Fahrrad auch wie ein Symbol der Massenvernichtung erschienen. Unglücklicherweise ließ sich das Schild nicht abschrauben. Welche Rituale erforderlich waren, das Rad von seiner vermeintlichen Schuld zu reinigen, war unklar. So überklebte sie das Schild mit Kreppklebeband und hoffte darauf, dass ihr bald ein neues Fahrrad zulaufen würde. DETLEF KUHLBRODT